Süddeutsche Zeitung

Die Angst vor Lafontaine:"Die Gegner fühlen sich in die Enge gedrängt"

Seit seiner Rückkehr in die Politik stößt Oskar Lafontaine auf eine breite Front der Ablehnung. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach verurteilt die Angriffe auf die Person des früheren SPD-Chefs als "unangemessen". In Wahrheit fühlten sich die etablierten Parteien bedroht.

Paul Katzenberger

sueddeutsche.de: Herr Professor Hengsbach, wenn derzeit Politikerkollegen oder Medien auf Herrn Lafontaine zu sprechen kommen, dann ist unisono die Rede von einem mediengeilen Selbstdarsteller, einem fahnenflüchtigen Demagogen oder einem Salon-Sozialisten, der den Rachen nicht voll genug bekommen kann. Stimmen Sie als anerkannter Sozial-Ethiker diesem Urteil über Lafontaine zu?

Friedhelm Hengsbach: Ganz und gar nicht. Diese personalisierende, emotionalisierende und moralisierende Ebene einer Beurteilung halte ich für völlig unangemessen.

Die Spielregeln des politischen Wettbewerbs werden verletzt?

Es liegt nah, dass politische Gegner so reagieren, weil sie sich plötzlich in die Enge gedrängt fühlen. Und zwar nicht moralisch oder persönlich, sondern politisch. Eine solche Übersprungshandlung, die Flucht aus der politischen Bedrohung heraus in die Emotional- oder Personalebene ist zunächst verständlich.

Wieso?

Weil auch persönliche Verletzungen in der politischen Szenerie eine große Rolle spielen. In harten Wahlkämpfen wurde regelmäßig Dreck gegen Personen geschleudert. Willy Brandt hat darunter gelitten, Franz-Josef Strauß war nicht zimperlich beim Austeilen. Die Versuchung, so zu reagieren, ist sehr groß, meine ich. Dennoch: Die Art und Weise, wie jetzt offene Flanken oder auch Brüche in der Biografie von Politikern aufgedeckt werden, finde ich einfach unangemessen.

Einverstanden, aber Lafontaine sieht sich doch schon seit seinem plötzlichen Rücktritt als Finanzminister und Parteivorsitzender im Jahr 1999 ungewöhnlich harten Angriffen ausgesetzt.

Als Lafontaine aus der Regierung austrat und alles niederlegte, wurde das als Verrat empfunden. Natürlich war es ein Affront gegen das mühsam austarierte Gleichgewicht zwischen der Schröder-Richtung und der in der SPD noch stark verbreiteten Orientierung an der traditionellen sozialen Gerechtigkeit. Lafontaine war wahrscheinlich der einzige, der Schröder überhaupt hätte noch einbinden können, so war die politische Erwartung. Die Empörung damals hatte auch einen politischen Grund: Es fehlte das Gegengewicht. Und damit wurde der Kurs der Agenda 2010 unausweichlich - mit dem desaströsen Ausgang für die SPD.

Der damals aber ja noch nicht absehbar war.

Die Aufregung hat sich schnell wieder gelegt, als es dem Kanzler scheinbar gelungen war, die Partei sachlich auf seine Linie zu trimmen. Erst als die Einheitslinie bröckelte, als die Agenda bei den Wählern und Wählerinnen nicht angenommen wurde und sich die Wahlniederlagen häuften, kam es zur Zerreißprobe zwischen der Schröder-SPD und den verschiedenen abweichenden Gruppen, die in der Fraktion und in der Partei eigentlich immer lebendig waren.

Und Sie meinen in dieser kritischen Lage fährt man dann schweres Geschütz gegen eine besonders bedrohliche Figur wie Lafontaine auf?

Die Tendenz, dass die SPD bis an den Rand des Ruins schrumpft, wurde in der Folgezeit immer deutlicher. Insofern ist ihre Lage jetzt extrem bedrohlich. Und in dieser Situation treibt das linke Bündnis, das nach den Umfragen realistische Chancen hat, einen Keil in die bisherige Agenda-Formation aus Regierung und Opposition. Insofern ist es verständlich, dass mit allen Mitteln reagiert wird - bis an die Grenze des Erlaubten und Erträglichen.

Aber es ist ja nicht nur die SPD, die Lafontaine ungewöhnlich hart attackiert. Es sind ja eigentlich alle. Die politische Rechte ebenso wie zum Beispiel die Medien.

Dass sich die Medien anschließen, finde ich kurzschlüssig. Dass die restlichen Parteien sich gegen diese Formation wenden, ist plausibel. Die CDU und die FDP müssen fürchten, dass ihnen die greifbare Chance entrissen wird, die Regierung zu übernehmen.

Also wie bei der SPD auch die Furcht vor einem neuen Gegner?

Ja. Die feste Vorstellung, die von den Altparteien gehegt werden konnte, ist zerbrochen, dass nämlich die bisherige Konstellation im Parlament - vielleicht mit anderen Vorzeichen - auf Dauer gestellt werden könnte. Vor 20 Jahren war dies ähnlich - als die Grünen auftraten. Auch sie wurden persönlich abgewertet, als sie aus der außerparlamentarischen Bewegung heraus in das parlamentarische System wechselten. Die persönliche Polemik gegen Fischer ist noch in lebendiger Erinnerung. Man muss diese Regelverletzungen als ärgerliche Kurzschlusshandlung deuten, zu der man in einer äußerst brisanten politischen Spielszene greift.

Der Theologe und Sozialwissenschaftler Friedhelm Hengsbach trat nach dem Abitur 1957 in den Jesuitenorden ein und ist heute Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, wo er das Nell-Breuning-Institut leitet. Seine Forschungsschwerpunkte: Die Theorie kapitalistischer Marktwirtschaften und die Zukunft der Arbeit sowie der sozialen Sicherungssysteme. Der Hochschullehrer ist Autor zahlreicher Bücher, hält regelmäßig Vorträge, und ist ein gern gesehener Gast in Diskussionsrunden.

Dennoch, der Hauptvorwurf gegen Lafontaine, dass er nämlich ein Verräter ist, hat sich - Spiel hin oder her - doch eigentlich verfestigt. Ihm wird vorgeworfen, einfach die Brocken hingeschmissen und seine Leute in der Partei-Linken schmählich im Stich gelassen zu haben. Er selbst nimmt für sich in Anspruch, nicht aus Bequemlichkeit zurückgetreten zu sein, sondern weil er sonst seine Überzeugungen verraten hätte. Welche Argumente sind aus ethischer Sicht überzeugender?

Ich habe das damals auch so empfunden. Dass ein Mann, der solche Fähigkeiten und solche politische Gestaltungsmacht hat, derart schnell das Handtuch wirft, hat mich enttäuscht. Andererseits kann ich dies im Nachhinein auch anders deuten.

Wie denn?

Wenn ich keine Möglichkeiten mehr sehe, meine Vorstellungen politischer Gestaltung in der damaligen Konstellation der Regierung Schröder durchzusetzen, kann jene Reaktion plausibel und vertretbar sein: "Ich steige aus. Ich bin meiner Identität schuldig, dass ich mich nicht unter das angeblich Unvermeidbare ducke." Tucholsky soll soll einmal gesagt haben: Immer klug sich beugen, wenn es Not tut. Dieser Rat kann zur Parodie werden.

Hat denn nicht auch die heutige Politikverdrossenheit etwas mit der allzu biegsamen Haltung vieler Politiker zu tun?

Viele Menschen sind zwar politisch interessiert, aber gehen zu den gegenwärtigen Parteien auf Distanz. Dies ist daraus zu erklären, dass sie den Politikern das Einstehen für das, was sie als richtig erklären, nicht mehr zutrauen. Dass sie in ihnen Wendehälse vermuten, die sich nach dem jeweiligen Wind orientieren.

Könnten Sie konkrete Beispiele nennen?

Seit es die demokratische Linke gibt, überschlagen sich die Altparteien in der Ankündigung sozialer Wohltaten: Lohnerhöhungen vom Kanzler, obwohl das im öffentlichen Dienst längst hätte passieren können. Andererseits hat er auf die Tarifautonomie keinen unmittelbaren Einfluss. Oder die Nachbesserungen zu Hartz IV. In der CDU werden jetzt Vorschläge gemacht, die lange Zeit Tabu waren, zum Beispiel Steuererhöhungen.

Die Agenda-Parteien SPD und CDU, wie Sie sie nennen, marschieren also wieder im Gleichschritt, nur jetzt in die andere Richtung?

Es mag reines Wahlkampfspektakel sein und bloß inszeniert. Wenn allein durch die Gründung der demokratischen Linken ein solches Gewirr von Nachbesserungen entsteht, kann man doch sagen: "Vielleicht war es notwendig, in diese Art großer Koalition, die sich für die Agenda und Hartz gebildet hat, einen Keil hineinzutreiben". Wie sonst hätte man die verschiedenen politischen Lager zwingen können, echt und wahrhaftig zu sagen, was sie vorhaben.

Wollen Sie damit sagen, dass der verschriene Demagoge Lafontaine ein Glücksfall für die politische Wahrheit ist?

Wie ich bereits angedeutet habe, finde ich das Verhalten von Lafontaine ambivalent. Im Jesuiten-Orden habe ich jedoch gelernt, dass man in der Position des Gegners zunächst einmal einen Kern des richtigen Verhaltens aufspüren soll. "Bis auf das Tüpfelchen auf dem i" hat Pater von Nell-Breuning gesagt. Wer das einmal verstanden hat, kann mit seinem Dialog-Partner auch heftig und kontrovers diskutieren.

Auf Lafontaine angewandt bedeutet dies?

Wenn man einen Kern des Echten und Wahren im Verhalten Lafontaines sieht, darf man seine Vorgehensweise auch unter dem Aspekt einer politischen Absicht sehen. Die ist bei einem Politiker genauso wichtig wie die persönliche Identität oder Authenzität. Die Frage, die sich anschließt, lautet dann: Ist dieses Handeln strategisch zu rechtfertigen, ist es im Spiel der politischen Kräfteverhältnisse vertretbar? Ich denke, man kann antworten: "Ja". Daher hat sein Verhalten aus der Rückschau eine politische Logik.

Der Zweck heiligte die Mittel?

Hengsbach: Hinterher weiß man's immer besser. Die von mir angesprochene Logik hat Lafontaine damals vielleicht gar nicht so klar gesehen. In der gegenwärtigen politischen Situation jedoch halte ich die Gründung der demokratischen Linken für außerordentlich innovativ. Denn offenischtlich ist ein Wählerpotenzial da, obwohl die repräsentativen Akteure und die, die sich im Wahlkampf aktiv engagieren, noch nicht angetreten sind. Eine solche Chance zu ergreifen und ihr eine parteipolitische Form zu geben, halte ich für eine beachtenswerte Leistung. Dass Lafontaine und Gysi vom Charaktertyp her so sind, wie sie sind, dass sie über enorme Mobilisierungskräfte verfügen wie kaum ein anderer - höchstens wie Fischer -, verschärft noch einmal den politischen Konflikt. Sie vertreten das Korrektiv der bisher als alternativlos propagierten Politik.

Sie haben ihre Meinung über Lafontaine also revidiert?

Zunächst war ich wie gesagt auch enttäuscht. Ich bin ja selbst eher ein Typ, der besagtem Tucholsky-Spruch folgt. Ich selbst zögere oft davor zurück, derart entschlossene Schritte zu gehen, etwa in meinem Verhältnis zur katholischen Kirche. Im Ruhrgebiet hieß es einmal: Man tritt nicht aus der SPD und nicht aus der Kirche aus. So eine Maxime kann den kollektiven Meinungsdruck spiegeln, um charakterstarke Individuen mit Zivilcourage und Profil einzufangen und einzuschüchtern. Mir ist aus dem katholischen Milieu ein solcher Gruppendruck vertraut. Insofern kann ich ein wenig nachvollziehen, dass Lafontaine derzeit einer solchen Ächtung begegnet.

Wenn es um die Lösung von Konflikten geht, ergeben sich bei der SPD und der Kirche also ähnliche Defizite?

Ja, bei Quertreibern und Aussteigern aus der katholischen Kirche wie etwa Küng oder Drewermann konnte man die Reaktion eines Systems beobachten, das einen strukturellen Konflikt personalisiert, moralisiert und dann auch kriminalisiert.

Wieso wird Ihrer Meinung nach moralisch zweifelhaftes Verhalten an anderer Stelle gnädiger beurteilt. In punkto Moral hat doch so gut wie jeder Spitzenpolitiker Abstriche gemacht, vor allem, wenn es um die Karriere ging. Ich nenne da nur mal den Dolchstoß von Frau Merkel gegen ihren alten Förderer Helmut Kohl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder die unappetitlichen Mobbing-Aktionen von Edmund Stoiber gegen Theo Waigel. Schröder, Westerwelle und Fischer sind auch keine Waisenknaben.

Ich denke, Politiker werden immer wie zwei Seiten einer Münze betrachtet. Auf der einen Seite sollen sie erfolgreich sein und im politischen Kräftespiel ihre Funktion erfüllen. Da kommt es dann auch ganz klar zu persönlichen Rivalitäten und auch persönlichen Verletzungen. Die Bevölkerung verlangt von Politikern, dass sie politisch erfolgreich sind und beurteilt sie danach. Und sie ist nachsichtig, wenn der Ellbogen gebraucht und Schachzüge durchgezogen werden. Das duldet man und findet es richtig.

Warum?

Hengsbach: Man darf politische und strategische Spielzüge nicht ausschließlich unter solchen moralischen Gesichtspunkten sehen, wie sie aus familiären und partnerschaftlichen Beziehungen vertraut sind. In den funktionalen Teilsphären Wirtschaft, Politik oder Recht gelten noch andere Steuerungsformen als allein die moralische Kommunikation.

Warum aber bei Lafontaine dann diese strenge Sicht der Dinge?

Sein Handeln wurde überhaupt nicht mehr als Spielzug erkannt und respektiert. Ihm wurde ein persönlicher Vorwurf gemacht, dass er aus verletzter Eitelkeit, aus moralisch verwerflichen Beweggründen heraus gehandelt habe. Dieser Vorwurf ist ein unerlaubter Wechsel der Sprachspiele durch die, die sich persönlich verletzt fühlten. Ein politisches Handeln des Gegners, das mir politische Nachteile bringt, sollte von mir politisch beantwortet werden und nicht auf dieser anderen Ebene, indem ich es personalisiere und moralisiere.

Der Vertrauensbruch von Frau Merkel gegenüber Herrn Kohl war also als Spielzug erkennbar und wurde daher vergeben. Schließlich hat sie sich mit ihrem Artikel in der FAZ als die Führungsfigur angeboten, die die im Spendensumpf steckende CDU damals so dringend brauchte?

Ja, ich denke, dass die politische Perspektive damals den Vorrang hatte, auch akzeptiert wurde, und dass persönliche Verletzungen in Kauf genommen wurden. Der Erfolg der politischen Aktion gab den Ausschlag für ihre Bewertung. Jetzt ist das politische Risiko größer und die Betroffenheit anders. Durch die Neugründung der demokratischen Linken sind nämlich alle Parteien in ihren Erfolgschancen und in ihrer Existenz betroffen.

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