Der Schock sitzt bei Celal Yorulmaz noch tief. "Ich hätte niemals gedacht, dass Erdoğan damit durchkommt." Der 51-Jährige sitzt in einem türkischen Dönerladen wie es sie viele gibt am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Yorulmaz spricht so laut, dass seine Tischnachbarn immer wieder zu ihm herübersehen. Sie wollen nichts zu dem Ausgang des Referendums über die Verfassungsreform sagen. Aber jetzt hören sie Yorulmaz zu, der immer wieder sagt: "Deutschland ist mein Land." Hier lebt und arbeitet er seit 30 Jahren. Die Teilnahme am Referendum hielt er dennoch für seine Pflicht, seine Geschwister leben in der Türkei. Yorulmaz stimmte mit Nein. Er befürchtet nun, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan endgültig zum Diktator wird.
Alles Quatsch, findet die junge Frau, die draußen in der Sonne steht. Sie will ihren Namen nicht sagen. "Meine Schwester lebt in Istanbul und ihr geht es gut dort", sagt sie. Trotz der lobenden Worte für Erdoğan, ist sie nicht zur Abstimmung gegangen. "Ich war verunsichert, auch wegen der Diskussionen zu Hause." Ihr Ehemann und ihre 17-jährige Tochter seien gegen die Verfassungsreform.
Der Inhalt konnte nicht geladen werden.
Die junge Mutter gehört damit zur Mehrheit der mehr als 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland: 54 Prozent von ihnen blieben nämlich der Abstimmung fern. Von denen aber, die teilnahmen, sagten 63 Prozent Ja zu Erdoğans Verfassungsplänen, ein deutlich höherer Anteil also als in der Türkei selbst. Nur in Berlin war das Ergebnis sehr knapp: Hier lagen die Ja-Sager nur wenige Zehntelprozentpunkte vorn.
Umso deutlicher war der Vorsprung der Erdoğan-Anhänger im Westen der Republik. In dem Wahllokal in der Dortmunder Nordstadt, für die Wähler aus dem Ruhrgebiet eingerichtet, war nicht nur der Andrang so groß, dass die Leute in den zwei Wahlwochen zeitweise bis auf die Straße hinaus anstanden. Mehr als drei Viertel von ihnen stimmten mit Ja. Überdurchschnittlich viele Ja-Sager gab es auch in Düsseldorf oder Köln. Nordrhein-Westfalen hat sich wieder einmal als Hochburg der Erdoğan-Anhänger erwiesen.
An Rhein und Ruhr ist jeder dritte in Deutschland lebende Türke zu Hause
An Rhein und Ruhr ist jeder dritte in Deutschland lebende Türke daheim. Aber warum sind gerade die Ruhrgebiets-Türken so empfänglich für die Botschaften des Präsidenten aus dem fernen Ankara? Viele Wähler hier stammen aus Familien, die einst als Gastarbeiter aus ländlichen Gegenden Anatoliens in die Zechen und Fabriken an der Ruhr kamen, "bildungsfern und sehr gläubig", sagt Hacı-Halil Uslucan, der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung, "solche Menschen wählen auch in der Türkei die AKP". Hinzu kommt: An Rhein und Ruhr sind die Anhänger von Erdoğans Regierungspartei besonders gut organisiert. "Die sind hier tatsächlich von Haustür zu Haustür gegangen", sagt Uslucan. In Köln hat nicht nur der als Ankara-hörig geltende Moschee-Dachverband Ditib seinen Sitz, sondern auch die Union Europäisch-Türkischer Demokraten, eine Art Ableger der AKP in Westeuropa. "Im Ruhrgebiet reichen ihre Verflechtungen in jedes Stadtviertel", sagt die Essener Grünen-Chefin Gönül Eğlence, Mitorganisatorin von Nein-Kundgebungen im Ruhrgebiet.
Der Inhalt konnte nicht geladen werden.
Es war kein Zufall, dass der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım auf einer Großkundgebung in Oberhausen Werbung für das Ja machte. Auch ins Wahllokal nach Dortmund, so hat Eğlence beobachtet, seien "ganze Busladungen von Wählerinnen antransportiert" worden. Es sei ein "Fehlschlag", dass westdeutsche Länder bei ihren Intergrationsbemühungen stark auf religiöse Verbände wie Ditib gesetzt und sie so gestärkt hätten, warnt Ali Sak, Vorstandsmitglied der sozialdemokratisch orientierten Türkischen Gemeinde in Deutschland: "Da muss die Politik dringend umdenken." Doch war der Einfluss der Auslandstürken auf den Ausgang des Referendums wirklich so groß? Immerhin waren fast drei Millionen Türken im Ausland aufgerufen, über das Schicksal ihres Herkunftslandes mit abzustimmen - etwa fünf Prozent der türkischen Wählerstimmen insgesamt. Gefolgt sind diesem Ruf aber nur etwa 1,41 Millionen Auslandswähler: Nahezu 60 Prozent von ihnen stimmten für, knapp 41 Prozent gegen die Reform. Um dem Nein-Lager einen knappen Sieg zu bescheren, hätten praktisch alle abstimmenden Auslandstürken Nein sagen müssen. Es hätte nicht gereicht, wenn in Deutschland alle Wähler mit Nein gestimmt hätten. Schlüsselt man das Ergebnis nach Ländern auf, ergibt sich ein gemischtes Bild: In einigen lag das Nein-Lager vorn, in anderen dominierte das Ja. Die Gründe sind verschieden: So leben etwa in den USA und Großbritannien viele türkische Studenten und Hochqualifizierte, in Schweden viele Kurden, die eher zum Nein tendierten.
Nicht einmal dem heftigen Streit, den Erdoğan etwa mit der deutschen oder niederländischen Regierung suchte, schreibt der Türkei-Experte Günter Seufert von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik großen Einfluss auf das Abstimmungsergebnis zu: "Die Zahlen entsprechen in ihrer Gewichtung dem, was bei früheren Abstimmungen herauskam", Erdoğan und die AKP hätten in Deutschland auch vorher schon einen Zustimmungswert von etwa 60 Prozent gehabt. Allenfalls auf die Wahlbeteiligung könnte sich der diplomatische Streit ausgewirkt haben. "Wegen der Auseinandersetzungen könnten sich diesmal mehr Türken motiviert gefühlt haben, ihre Stimme abzugeben."