Süddeutsche Zeitung

Deutsch-deutsche Umzüge:Ostwärts

Erstmals seit 1990 ziehen mehr Menschen aus den alten in die neuen Länder als umgekehrt. Vier frühere Wessis erzählen, wie sie zwischen Harz und Oder angekommen sind.

Protokolle von Ulrike Nimz, Leipzig

30 Jahre nach dem Mauerfall beobachten Demografen so etwas wie eine zweite Wende: die eines hartnäckigen Trends. Erstmals seit der Wiedervereinigung ziehen in Deutschland mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Wer macht rüber und warum? Vier westdeutsche Binnenwanderer berichten über ihr Ankommen in der neuen Heimat, biografische Brüche und Missverständnisse im Karneval.

"Gar nicht grau in grau"

Dieter Greysinger: "Als die Mauer fiel, war ich auf Weltreise, in Ubud, einer Kleinstadt auf Bali. Die ganze Nacht habe ich Weltempfänger gehört. Als ich zurück in Franken war, hat mich mein Chef bei der Barmer gefragt, ob ich nicht nach Sachsen gehen will, um dort das soziale Netz aufzubauen. Das war 1990. Hainichen hat mir gut gefallen, gar nicht grau in grau. In der "Gartenklause" saß ich nie allein am Tisch. Von der Mentalität her sind Franken und Sachsen ja nicht so unterschiedlich. Beide sind schwer aus der Reserve zu locken, aber wenn man einmal akzeptiert ist, muss man schon ganz schöne Böcke schießen, damit sich das wieder ändert.

Ich habe seinerzeit viele Vorträge gehalten, über Lohnfortzahlung und Arbeitslosenversicherung. Die Leute waren überrascht. Viele glaubten ja, im Kapitalismus gibt es gar keine Absicherung. 1994 habe ich mich für den Stadtrat aufstellen lassen. Ich habe nicht geglaubt, dass ich reinkomme, schon wegen meiner fremdländischen Sprache. Dass es geklappt hat, war für mich ein Indiz dafür, dass die Leute in mir nicht nur den Wessi sehen.

Allerdings gab es Grenzen. Für die Krankenkasse war ich damals relativ erfolgreich in der Mitgliedergewinnung. Der Presse habe ich den Landrat als 1000. Mitglied präsentiert. Wegen dieser Geste gab es etliche Austritte, darunter ein ganzer Betrieb. Weil man daraus abgeleitet hat, dass ich ein Jahr vorher wahrscheinlich den SED-Bezirkssekretär präsentiert hätte. Im Westen war es damals üblich, bekannte Personen zu solchen Anlässen heranzuziehen - im Osten hingegen total verpönt. Ich habe schnell gemerkt: Die Menschen haben zwei Leben, eines vor dem Mauerfall und eines danach.

Seit 1996 bin ich in der SPD, seit 2004 Bürgermeister von Hainichen. Mein größter Tiefschlag in all den Jahren war das Ergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2017. Sie ist in Hainichen wie in ganz Sachsen stärkste Partei geworden. Ich weiß nicht, woher dieser Groll kommt. Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen schon einmal ein System gestürzt haben oder Prozesse in einer Demokratie manchmal sehr langwierig sind. Im Osten wird Politik kritischer hinterfragt. Im Westen sagen die Menschen öfter: Ist halt so."

Gabriele Möller-Hasenbeck: "Mein Mann und ich sind das erste Mal 1988 durch Sachsen und Thüringen gereist. Weimar gefiel uns damals so gut, dass wir nicht lange überlegt haben, als sich ein paar Jahre später die Möglichkeit ergab, dort ein Steuerbüro zu eröffnen.

Weimar liegt ja in der Mitte Deutschlands, nicht zu weit von meiner Heimat Baden-Baden entfernt. Die Stadt ist grün und nicht zu groß, man grüßt sich auf der Straße. Anfangs roch es noch anders. Es gab ja wesentlich mehr Kohleöfen als bei uns. Wir waren schon bevor wir nach Weimar gezogen sind, viel auf Dienstreise im Osten, meistens bin ich um die Wochenmitte herum sehr müde geworden, obwohl ich genug geschlafen hatte. Es lag an der schlechten Luft, mir hat wohl der Sauerstoff gefehlt. Groß beunruhigt hat mich das aber nicht. Meine Abenteuerlust war größer.

Unser Freundeskreis in Weimar ist sehr gemischt, man sucht sich Freunde ja nicht danach aus, wo sie herkommen. Wenn es in Diskussionen um die DDR, die Stasi und solche Themen geht, dann halten mein Mann und ich uns meistens raus. Wir kennen die Lebensumstände von damals nicht genug und wollen uns kein Urteil erlauben.

Ich werde immer gefragt: Was macht ihr denn, wenn ihr aufhört zu arbeiten - bleibt ihr hier? Ich frage dann zurück: Ja, wo soll ich denn hin? Weimar ist mein Zuhause. Mein Sohn und meine Tochter sind hier geboren, er studiert in Regensburg, sie in Schottland. Beide werden wohl nicht nach Weimar zurückkommen, weil der Arbeitsmarkt nicht das hergibt, was sie brauchen. Wenn mein Sohn doch mal gefragt wird, wo denn Weimar liegt, sagt er: Leute, habt ihr im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst? Die Kategorien Ost und West gibt es für sie nicht mehr. Für mich eigentlich auch nicht.

Erst nachdem ich in Köln beim Karneval zu Bernd Stelter auf die Bühne gegangen bin, um ihm zu sagen, dass ich seine Witze nicht lustig finde, habe ich viel böse Post bekommen, in der es um mein vermeintliches Ostdeutschsein ging. Offenbar ist das Thema auch nach 30 Jahren noch nicht durch."

Maura Schwander: "Seit 2006 arbeite ich beim Umweltbundesamt in Dessau (Uba). Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit meiner Mutter vor dem bunten Bau stand, und sie sagte: "Na, da bin ich ja froh, dass du wenigstens acht Stunden am Tag in einem schönen Haus sitzt".

Besonders um den Bahnhof herum war Dessau damals sehr grau; das war der erste Eindruck. Heute sind viele dieser Gebäude saniert, viele der Plattenbauten im Umfeld meiner ersten Wohnung stehen nicht mehr. Ich habe von Anfang an nicht so viel davon gehalten, nur etwas mit Kollegen zu unternehmen. Einen Monat nach meinem Umzug habe ich eine Stadtführung mitgemacht. Der Stadtführer und ich sind noch immer befreundet.

Natürlich habe ich hier Leute kennengelernt, die mit dem Leben unzufrieden sind. Ich verstehe das auch - all diese Brüche in den Biografien. Ich würde gern in die Vergangenheit reisen, um einen Morgen am Dessauer Bahnhof zu verbringen, als die Menschen noch in Scharen nach Bitterfeld in den Chemiepark gefahren sind. Ich war vor der Wende ja nie im Osten. Wenn ich Bilder von früher sehe, dann fällt mir immer auf, dass die Fassaden vielleicht nicht so bunt waren, aber Menschen auf den Straßen. Ist doch klar, dass es etwas mit den Leuten macht, wenn es immer leerer wird.

Auch das Uba ist nicht so sehr in der Stadt verankert, wie es das sein sollte. Viele Mitarbeiter pendeln nach Leipzig oder Berlin, weil ihre Familien dort geblieben sind. Mein Mann ist zu mir nach Dessau gezogen, wir haben zwei kleine Kinder. Vor kurzem bin ich zur Vorsitzenden einer Spielplatzinitiative gewählt worden, im Mai werde ich für den Stadtrat kandidieren. Mein Mann arbeitet beim Stadtmarketing. Es gibt hier so viel Schönes: das Gartenreich Dessau-Wörlitz, die Industriegeschichte um Hugo Junkers, das Bauhaus. Ich radle auf dem Weg zur Arbeit darunter durch. Jedes Mal, wenn ich dieses zeitlose Gebäude sehe, macht mich das glücklich."

Stephan Schneider: "Wir sind ein Freundeskreis von acht Leuten, die beschlossen haben, gemeinsam ein Hausprojekt zu gründen. Wir waren uns sehr schnell einig, dass wir dafür nach Leipzig ziehen wollen. Die Stadt hat eine rege alternative Szene und die Hauspreise sind verdammt viel günstiger als in Bremen oder Hamburg.

Meine Freundin kommt aus der Nähe von Meißen, ich war also schon vorher in Sachsen, auch auf Demos gegen Neonaziaufmärsche. Was mir gleich aufgefallen ist: wie weiß und deutsch Sachsen ist. Ich bin in Mannheim aufgewachsen, da ist es völlig normal, Nicht-Weiße auf der Straße zu sehen. Hinzu kommt der Alltagsrassismus, den ich nicht selbst erlebe, über den mir aber immer wieder berichtet wird. Ein Freund ist vor acht Jahren aus seiner Heimat Hannover nach Leipzig gezogen. Seine Familie ist aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Er sagt immer: So wie hier muss es sich für meine Eltern in den 70ern im Westen auch angefühlt haben.

In der Gruppe beschäftigen wir uns alle beruflich oder privat mit Themen wie Diskriminierung, Rechtsextremismus, Rassismus. Ich arbeite beim Roten Stern Leipzig, einem Sportverein aus Connewitz. Wir wussten also, was auf uns zukommt, wenn wir in den Osten gehen. Wobei man sagen muss: Leipzig fühlt sich ein bisschen wie eine Insel an. Wir wären wohl eher nicht nach Dresden oder Chemnitz gezogen.

Dass wir alle aus dem Westen stammen, war anfangs schon Thema - interessanterweise eher in linken Kreisen. Da mussten wir uns von Ur-Leipzigern fragen lassen, warum wir nicht in Göttingen geblieben sind. Der Vorwurf Gentrifizierung stand im Raum. Ich finde, es kommt auch darauf an, wer kommt und warum. Wir bauen einen alten Gasthof am Stadtrand aus. Die Nachbarn haben uns gut aufgenommen, gerade organisieren wir ein großes Straßenfest. Ich kenne viele, die sagen: Leipzig ist so schön wie noch nie, eben weil junge Leute herziehen und ihr Ding machen."

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SZ vom 18.04.2019/mkoh
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