Deutschland:"Warum nur schauen so viele weg?"

Necla Keleks Kampf gegen die Unterdrückung türkischer Frauen in Deutschland: Zwangsheirat, Prügel und so genannte Ehrenmorde - über die Wut einer Bestseller-Autorin im Niemandsland zwischen zwei Welten

Von Cathrin Kahlweit

Das Wohnzimmer ist ihre östliche Welt, das Arbeitszimmer die westliche. Im Wohnzimmer serviert sie Kaffee, hier steht ein Silbertablett mit türkischen Tassen, orientalische Souvenirs liegen im Regal. Ein altmodisches Schwarzweiß-Foto der Familie, wie es sie einmal gab und nach allem, was geschehen ist, nie mehr geben wird, steht auf der Anrichte.

Türkin beim Sprachunterricht

Sprachkurse sollen die Integration erleichtern.

(Foto: Foto: AP)

Mitten in den Papierbergen des Arbeitszimmers hingegen spuckt das Fax eine Einladung nach der anderen aus, am Telefon ist das Goethe-Institut London, davor war es die Friedrich-Ebert-Stiftung, also bloß schnell ins Wohnzimmer und die Tür zuschlagen, sonst frisst die westliche Welt sie auf.

Menschenrechte für alle

Im Wohnzimmer ihrer Hamburger Wohnung wirkt sie wie ein Mädchen, das gern erzählt und Schokoladenkuchen isst, und wie ein Mädchen trägt die 47-Jährige Schuhe mit Riemchen, ihre langen, schwarzen Haare hängen offen herab. Wie ein schüchterner Teenager lacht sie auch, wenn sie Witze macht, und reißt dabei die Hand vor den Mund, als habe sie etwas Unbotmäßiges gesagt.

Wenn sie sich aber angegriffen fühlt, wenn sie im Arbeitszimmer wütende Leserbriefe hervorkramt oder kritische Artikel, dann kann sie bissig werden. Dann wird ihr sonst perfektes Deutsch ein klein wenig fehlerhaft, die Sätze haben bisweilen kein richtiges Ende, weil sie so aufgebracht ist. Dann kontert sie Fragen mit Gegenfragen, wird schnell grundsätzlich, sagt Sätze wie: "Finden Sie nicht, dass Menschenrechte unteilbar sind?" Oder: "Gilt in Deutschland nicht für alle Menschen das Grundgesetz?"

Radikale Forderungen

Derzeit hat sie sehr häufig das Gefühl, unbotmäßige Dinge zu sagen, und sie fühlt sich häufig angegriffen - deshalb wirkt sie, als sei sie in permanenter Verteidigungsstellung. Necla Kelek, als Kind aus der Türkei fortgegangen, nach Jahren der inneren Emigration und des Heimwehs als Frau in Deutschland angekommen, hat das Buch "Die fremde Braut" geschrieben - und sich nicht nur Freunde gemacht.

Ihr Thema: die fatale Tradition der Zwangsverheiratung bei türkischen Immigranten, beschönigend auch "arrangierte Ehe" genannt. Ihre These: Wer junge Frauen aus der Türkei holt, wer sie, wie immer noch üblich, regelrecht kauft, wer Mädchen aussucht, die kein Deutsch können, die sich klaglos unterordnen unter Ehemann und Schwiegereltern und die ihre Minderwertigkeitsgefühle weitergeben an die Kinder - wer das zulässt, der verhindert Integration.

Ihre Forderung: Die Bundesregierung sollte Zwangsheirat mit einem eigenen Straftatbestand ächten und das Zuzugsalter heraufsetzen, weil erwachsene Frauen sich besser wehren können als minderjährige Mädchen. Und türkische Traditionalisten sollten mit dieser unseligen Sitte ganz schnell aufräumen. "Zwangsehen sind Menschenrechtsverletzungen", das ist für sie eindeutig.

Vorträge, Lesungen und Talkshows

Im Januar ist ihr Buch erschienen; es kletterte rasend schnell in den Sachbuchlisten nach oben. Der Bundesinnenminister persönlich hat es positiv im Spiegel rezensiert und im Willy-Brandt-Haus vorgestellt.

Otto Schily ist dafür bekannt, dass er der Multikulti-Begeisterung seiner grünen Mitregenten skeptisch gegenübersteht; eine - zumal türkisch-stämmige - Autorin, die sich wütend über den kulturellen Relativismus deutscher Gutmenschen auslässt, kam ihm vermutlich da gerade recht.

Seitdem hält sie Vorträge vor Migrationsbeauftragten und Ausländervereinen, wird zu Lesungen eingeladen, sitzt in Talkshows. Am 10. März hat sogar der Bundestag - nach dem fünften so genannten Ehrenmord an einer türkischen Frau innerhalb von sechs Monaten - über Tötungen und Zwangsheiraten diskutiert.

Für eine Türkin, die hier integriert ist, die in Deutschland Soziologie studiert hat und Stipendien von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bekam, die in Greifswald promovierte und deutsche Staatsbürgerkunde unterrichtet hat, ist sie ziemlich radikal:

Der "Abi" vertritt den Vater

Kaum eine hat bisher so respektlos wie sie die deutsche Seite angegriffen: "Warum nur schauen so viele weg", fragt sie und spricht von "falscher Toleranz" und "Ignoranz". Das Establishment der Alt- 68er mache heute Gleichstellungsgesetze und Antidiskriminierungsgesetze, empört sie sich.

Aber gegenüber jenen Zuwanderern, die sich wieder verstärkt dem Islam zuwenden und Frauen unterdrücken, "sind die gleichen Leute mit Blindheit geschlagen". "Scheißliberal" nannten Konservative früher diese Haltung, die Necla Kelek kritisiert, und deshalb muss sie sich jetzt ständig anhören, sie lasse sich von Integrationsfeinden instrumentalisieren.

Wer ihre Geschichte kennt, ahnt, wo all die Wut herkommt. Necla Kelek, die mit neun Jahren ihrem Gastarbeiter- Vater nach Deutschland folgen musste und seit 15 Jahren einen deutschen Pass hat, erzählt in ihrem Buch über weite Strecken Familiengeschichten. Ihren jüngeren Bruder hat sie dafür um Erlaubnis gefragt - nicht den älteren.

Für eine Tochter aus türkischer Familie ist das ungewöhnlich, denn der ältere Bruder, der "Abi", vertritt den Vater, in der Familienhierarchie steht er ganz oben, auch über der Mutter. Doch der Abi hatte gegen die Familienehre verstoßen, denn er tat, was sich nicht gehörte: Er heiratete die Frau, die er liebte, und verließ die Frau, die seine Familie ausgesucht hatte. Zur kleinen Schwester hat er kaum noch Kontakt.

"Warum nur schauen so viele weg?"

Geschichten aus der eigenen Familie

Auch die ältere Schwester hat Necla Kelek nicht um Zustimmung gebeten, als sie beschloss, ein Buch über die Familie zu schreiben, denn die Schwester wurde im Alter von 22 Jahren in die Türkei verheiratet und "bekam mit ihrem Mann im Lehmhaus seiner Eltern ein Zimmer. Das war nun ihr neues Zuhause".

Ihre Eltern weinten der älteren Schwester keine Träne nach. "Im nächsten Jahr wären wir sie auch für doppelt so viel Geld nicht losgeworden", befand die Mutter. Der Vater hatte die Familie verlassen, weil er sich von der aufbegehrenden jüngeren Tochter Necla um seine Ehre gebracht fühlte; er ging in die Türkei zurück und starb dort Jahre später. Necla hatte als Teenager nicht einsehen wollen, dass der Vater wie ein Gott behandelt werden musste, dass ihm die Familie untertan war.

Der jüngere Bruder, immerhin, stimmte der Idee vom Buch zu - auch auf die Gefahr hin, dass seine Schwester die Familienehre beschmutzen könnte; ihm war diese Tradition nicht mehr wichtig. Dieser Bruder ist erfolgreich, Manager bei Siemens, mehr Deutscher mittlerweile als Türke, er war immer auf ihrer Seite, wenn sie gegen den allgewaltigen Vater und die demütige Mutter aufbegehrte.

Also hat die studierte Soziologin Kelek "aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland" erzählt. Von ihrer Mutter, die der Ehemann in der Hochzeitsnacht vergewaltigte, die ihn allmorgendlich verfluchte und die nie aufbegehrte gegen den ungeliebten Gatten, denn "wie kann ich mich gegen einen Mann wehren, den ich nach 33 Jahren noch nicht wage, mit seinem Vornahmen anzusprechen?"

Symbolischer Ehrenmord

Bis er sie verließ und sich später eine 25-jährige neue Braut nahm, nannte die Mutter ihren Mann "Efendi", mein Herr. Necla Kelek erzählt von der großen Schwester, der "Abla", die immer alle bedienen und für alle sorgen musste, die nie ein eigenes Leben hatte.

Vom Vater, der ihr, der zweiten Tochter, erst die Teilnahme am Turnunterricht verbot und später jeden Schulbesuch. Von sich selbst erzählt sie, wie sie aufbegehrte und wieder zur Schule durfte, wie sie schließlich die Autorität des Vaters in Frage stellte: Als er nach Hause kam und alle Kinder, wie es Tradition war, im Flur der kleinen Wohnung in einer niedersächsischen Kleinstadt antreten mussten, da schloss sie sich ein.

Er brach die Tür auf und würgte sie fast zu Tode. Danach verließ er die Familie. "Er hat einen symbolischen Ehrenmord an mir begangen", sagt seine Tochter heute. "Aber immerhin hat er mich nicht getötet, sondern ist gegangen. Damit hat er mir die Freiheit geschenkt." Die Beziehung zum Vater hat sie in einer Therapie aufgearbeitet.

All das sind private Geschichten, wie sie vorkommen können in vielen Familien, aber die Autorin Kelek hat dennoch in den Augen vieler Türken gegen ungeschriebene Gesetze verstoßen: Sie habe, wird ihr ständig vorgeworfen, die Türkei verunglimpft.

Integrationsgeschichte wird in Frage gestellt

Denn ihr Buch geht weiter, verlässt den familiären Kreis, geht hinaus in die türkischen "Kazas", in parallele Welten, wo türkische Frauen keinen Deutschen kennen, wo sie sich ihr Leben zwischen Herd, Nachbarinnen und Moschee abspielt, wo Deutschland ein fremder, unbekannter Stern ist.

Und: Necla Kelek, die selbst eine Verheiratung durch ihre Familie ablehnte, sich einen deutschen Mann suchte und "zum ersten Mal richtig lebte", erzählt, wie diese jungen, bisweilen minderjährigen Frauen, als seien sie Vieh auf einem Sklavenmarkt, in ihrer kleinen Welt eingesperrt, oft auch misshandelt werden.

Türken und Deutsche, sagt Kelek und stellt sich für diesen Satz in den Türstock zwischen Wohn- und Arbeitszimmer, als müsse sie sich ins Niemandsland zwischen ihren zwei Welten retten, Türken und Deutsche hätten dasselbe Problem: Sie wollten so etwas nicht hören, weil es 50 Jahre Integrationsgeschichte in Frage stelle.

Kritik an der Herangehensweise

"Die fremde Braut" kratzt also zum einen am Selbstverständnis einer aufgeklärten, liberalen politischen Elite, und das beste Beispiel dafür ist eine interne Gesprächsrunde der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung, die zum interkulturellen Dialog einlud.

Hier sitzt Necla Kelek, adrett in ihre Riemenschuhe und einen schwingenden Rock gekleidet, vor einer kritischen Runde. Höflich ist man und hört einander zu, und nur bei Necla Kelek selbst zeigt sich die Erregung wieder in den Sätzen, die kein richtiges Ende finden, in der Zahl ihrer Grammatikfehler, die beim Reden steigt.

Denn wichtige Leute sind da: von Ministerien, von der Bundeszentrale für politische Bildung, von der Bundesbeauftragten für Migration, von muslimischen wie türkischen Verbänden. Und wie meist, wenn die Bestsellerautorin vorträgt, entsteht eine Ja-Aber-Diskussion: Zwei Zuhörer loben sie ausdrücklich für diese "wichtige Arbeit", denn "wir Christen haben uns ein Selbstbestimmungsrecht mit der Aufklärung erkämpft, wir müssen das auch vom Islam fordern".

Aber dann mault ein Theologe: "Ihre wissenschaftliche Herangehensweise passt mir nicht", eine Vertreterin des Auswärtigen Amtes möchte die ganze Sache gern als Erziehungsproblem türkischer Eltern betrachtet sehen, gegen das man mit Gesetzen nichts machen könne. Eine Vertreterin der jüdischen Gemeinde warnt vor "Zwangsintegration", eine Mitarbeiterin der SPD-Bundestagsfraktion will auch an die armen Import-Bräutigame erinnern, die wohlhabende Türken ihren Töchtern kauften.

Wut auf türkische Mütter

So richtig läuft Necla Kelek allerdings erst rot an, als ein Berliner Vertreter der Islamischen Föderation loslegt: Diese Ehen seien doch oft "gut kalkuliert", die Eltern, die da eine Ehe arrangierten, dächten doch auch nur an das Wohl ihrer Kinder. "Hier gibt es zu viele Freiheiten, da wollen die Eltern eine Braut, die nicht mit Problemen kommt."

Diese Ehen seien arrangiert, ja, durchaus, aber "Zwangsheiraten gibt es hier nicht". Necla Kelek schaut sich entsetzt um. Ihr Lebensgefährte, der Lektor Peter Matthews, der sie meist begleitet und auch an diesem Abend kopfschüttelnd der Diskussion zuhört, hält den Atem an. Aber keiner widerspricht.

Gegenwehr kommt auch aus der türkischen Community, denn die ganze Debatte kratzt am Selbstverständnis aufgeklärter Muslime, die finden, da rede eine, die gar nicht mehr so richtig zu ihnen gehört, die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte kaputt.

"Warum nur schauen so viele weg?"

Kein Wunder: Necla Kelek hat ja auch eine ungeheure Wut auf türkische Mütter, die es zulassen, dass ihre Söhne ihre Töchter um der so genannten Ehre willen töten. Und auf Väter, die diese Morde verantworten, weil sie finden, die Töchter machten ihnen Schande. "Was haben diese Eltern für Menschen erzogen?", fragt sie, "warum müssen sie ihre Söhne zu Killern machen? "

Immense Dunkelziffer

Weil sie solche Sätze nicht nur in ihrem Arbeitszimmer, sondern auch jederzeit und gern laut öffentlich sagt, hat sie Ärger. Die deutsche Ausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet titelte über sie und eine Mitstreiterin, die Autorin Serap Cileli: "Zwei Schriftstellerinnen erklären die Türkei zu einer Prügelnation."

Die türkisch-stämmige Bundestagsabgeordnete Lale Akgün schreibt in derselben Zeitung über Zwangsehen: "Mein Vater pflegte zu sagen, seltene Krankheiten sind selten, das heißt, man sollte die Ausnahme nicht als Regel hinstellen." Die SPD-Politikern Akgün findet, Necla Kelek lasse sich von Integrationsgegnern als Kronzeugin instrumentalisieren.

Die Migrationsbeauftragte der Hamburger SPD, Aydan Özoguz, wetterte nach einer Lesung im Hamburger Literaturhaus, es sei "zu bequem, nur zu sagen, dass die Türken selbst das Problem sind". Necla Kelek stellt bei solchen Bemerkungen gern eine ihrer grundsätzlichen Fragen: "Können Migranten nicht selbst den Mund aufmachen? Können Muslime nicht selbst etwas für ihre Integration tun?"

Kelek: Jede zweite - ist das ein Randphänomen?

Auch als Wissenschaftlerin zieht sie Kritik auf sich: Die promovierte Soziologin arbeitet mit qualitativen Untersuchungen - sie befragt ein paar Dutzend Menschen oder, wie für die "Fremde Braut", rund 50 Importbräute, und zieht daraus generelle Schlüsse.

Das macht es ihren Kritikern leicht: Sie würde generalisieren, heißt es. "Immer wieder höre ich, Zwangsheirat sei ein Randphänomen, eine Ausnahme, nur ein paar besonders altmodische Familien machten das so", ruft sie fassungslos, "und mit dem Islam habe das alles schon gar nichts zu tun."

Gegen die These vom Randphänomen spricht aber doch einiges, zumal da die Dunkelziffer nicht nur in Deutschland sehr hoch ist: Das Bundesfamilienministerium hat im vergangenen Jahr eine viel beachtete Studie zur Lebenssituation von Frauen in Deutschland publiziert. Danach gab jede zweite Türkin an, ihre Eltern hätten den Ehepartner für sie ausgesucht, jede vierte kannte ihren Mann vor der Hochzeit nicht.

Necla Kelek macht eine lange Pause, schaut ihre skeptischen Zuhörer an. Und dann sagt sie: "Jede zweite - ist das ein Randphänomen?"

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