Deutschland vor der Europawahl:Größer als die Nation

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Wegen der zum Teil schrillen Vielfalt des neuen Parlaments wird die Tendenz zur großen Koalition wachsen. (Foto: Ralf Roletschek)

Heimat, Mutterland, Sehnsuchtsort Europa? Nein, noch nicht. Diese Union ist kompliziert, überbürokratisiert und weckt wenig positive Gefühle. Aber die Europawahl ist wichtig, denn es geht um Themen, die längst größer sind als die nationale Politik. Die Nagelprobe für das neue Parlament kommt danach - wenn es den Präsidenten der EU-Kommission wählen wird.

Ein Kommentar von Kurt Kister

Wer in Nürnberg, Augsburg oder München die Plakate von CSU und SPD zur Europawahl besichtigt, der könnte meinen, Horst Seehofer trete gegen Martin Schulz an. Nein, der CSU-Dominator wird nicht nach Brüssel entschwinden. Sein Konterfei ist nur auf den Plakaten, weil die CSU nicht mit Jean-Claude Juncker, dem Spitzenkandidaten der europäischen Konservativen, werben will. Bei der Europawahl ist Juncker der CSU zu viel Europa. Ähnlich verhält sich auch die CDU im außerbayerischen Restdeutschland, nur sieht man da das Porträt von Angela Merkel.

Im Vergleich dazu führt die SPD einen durchaus europäischen Wahlkampf, für den ihr Spitzenkandidat Schulz hektisch den Kontinent durchmisst. Die CSU aber macht aus dem Bauch heraus eigentlich weniger für als vielmehr gegen Europa Wahlkampf. Bayern müsse "stärker" werden, verlangt sie, aber Europa "besser" - heißt auf Deutsch: Bayern ist gut, Europa aber eher schlecht. Die Schwarzen fürchten sich offenbar davor, dass Europa bei ihren Wählern ein bad karma hat. Genau deswegen hat die Partei auch Peter Gauweiler vorübergehend in den Vorstand geholt. Gauweiler steht nicht nur für den höchsten "Neben"verdienst aller Bundestagsabgeordneten, sondern vor allem für jene grantige, leicht gamsbärtige EuropaSkepsis, die gerade sehr modern ist.

Natürlich gibt es viele europäische Themen, die man sehr unterschiedlich beurteilen kann, ohne deswegen gegen Europa zu sein. Das beginnt bei Form und Inhalt der Verhandlungen über das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen, setzt sich über die Finanz- und Zinspolitik oder den Umgang mit Flüchtlingen fort und hört nicht bei der Megafrage "Staatenbündnis oder Bundesstaat?" auf. All dies sind Themen, die längst "größer" sind als die nationale Politik; sie überschreiten im guten Sinne die Kompetenz der nationalen Parlamente.

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Streiten für den Kompromiss

Zur gemeinsamen Lösung dieser Probleme gehört auch das Streiten miteinander im Europaparlament, im Europäischen Rat und notfalls vor europäischen Gerichten. Man muss Kompromisse finden jenseits von Berlin, Paris oder Rom. Und zu diesem wirklich alternativlosen Prozess trägt das Europäische Parlament, tragen die Wahlen zu diesem Parlament bei. Es geht nicht darum, Bayern stärker, Frankreich glorioser oder Griechenland selbständiger zu machen. Es geht vielmehr um die Ausgestaltung, die demokratische Möblierung der Zukunft Europas.

Auch wenn man - anders als dies Marxisten oder Jünger des frühen Francis Fukuyama tun - nicht an eine zwangsläufige Entwicklung der Geschichte glaubt, so ist dennoch festzustellen, dass es in Europa ein eher glückliches Fortschreiten gegeben hat: Der alte Kontinent hat sich von der blutigen Konkurrenz der Nationalstaaten über die waffenstarrende Konfrontation zweier Blöcke hin zu einem gut funktionierenden Großraum des freundlichen, wenn auch immer noch schwierigen Konsenses entwickelt. Die EU ist kein Block, in dem - man denke an 1953 oder 1968 - Mitglieder notfalls mit Waffengewalt gehalten werden, sondern ein Staatenbund, der so attraktiv ist, dass trotz Euro-Krise und Wohlstandsgefälle praktisch alle Länder in der weiteren Umgebung gerne Mitglied würden, wenn sie es denn nicht schon sind (die Schweiz ist die historische Ausnahme; Großbritannien könnte, pardon the pun, die hysterische Ausnahme werden).

Gewiss, diese Union ist kompliziert, überbürokratisiert und weckt wenig positive Gefühle - Heimat, Mutterland, Sehnsuchtsort Europa? Nein, noch nicht, dazu tragen wohl alle noch zu schwer an der Geschichte: zwei Weltkriege, Massenmord, die atomare Konfrontation. Andererseits ist die Bereitschaft, nationale Souveränität zugunsten supranationaler Entscheidungsmacht aufzugeben, sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das ist verständlich, legitim und stellt Parteien, die in diesem Sinne europakritisch sind, keineswegs ins Abseits. Aber in der ideologischen Gegnerschaft zur EU treffen sich eben auch Nationalisten, Protektionisten, sehr Linke und Extremrechte. Sie kommen zwar aus unterschiedlichen Richtungen, schlagen aber gemeinsam auf jenen Sack ein, den sie für einen Esel halten.

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Die EU ist alles. Für die einen symbolisiert sie das selbstverständlich gewordene Gute: offene Grenzen, zerbröselte Feindbilder, Freizügigkeit, Menschenrechte. Für die anderen ist die EU das Brüsseler Ungetüm der Sparpolitik, der Arbeitslosigkeit und der Bevormundung. Zwar zählt der berühmte Brüsseler Beamtenapparat nicht mehr Köpfe als die Verwaltung einer deutschen Großstadt, aber was macht das schon, wenn man in einer Talkshow über Europa klagt.

Eine schrille Vielfalt

In der neuen Legislaturperiode wird die Zahl der Anti-EU-Abgeordneten im EU-Parlament eher wachsen, auch wenn erste Wahlnachfragen in den Niederlanden einen erfreulichen Misserfolg der Wilders-Partei andeuten. Im Zweifelsfall sind Gegner und Kritiker politisch aktiver als die große Mehrzahl der mäßig bis nicht interessierten Wähler, die noch dazu von Parteien wie der CSU gesagt bekommen, es gehe bei dieser Wahl eigentlich um Bayern. Die CSU, aber auch Frankreichs Konservative oder Teile der britischen Tories umwerben die EU-Nörgler genauso wie ihre prinzipiell jedenfalls nicht europafeindliche Stammklientel. Das ist politisch bipolares Verhalten.

Das mutmaßliche Erstarken der EU-Feinde und der Splitterkräfte im Europäischen Parlament wird kurzfristig in den nationalen Debatten, zumal in der in Deutschland, eine größere Rolle spielen als mittelfristig im Europaparlament selbst. Unter den mehr als 750 Abgeordneten werden politisch eher randständige EU-Gegner jeder Couleur nicht stark genug werden, um die Arbeit des Parlaments zu blockieren. Sie werden auch nicht einig genug dafür sein, abgesehen davon, dass Protestparteien häufiger mal an der Parlamentsarbeit scheitern.

Wegen der zum Teil schrillen Vielfalt des neuen Parlaments wird auch in Brüssel und Straßburg die Tendenz zur großen Koalition wachsen, egal, ob die etablierten Konservativen oder die Sozialdemokraten stärkste Fraktion werden. Die Nagelprobe für das neue Parlament kommt dann, wenn es den Präsidenten der EU-Kommission wählen wird.

Sollte der Europäische Rat, also das Gremium der Staats- und Regierungschefs, nicht den siegreichen Spitzenkandidaten Juncker oder Schulz, sondern jemand anderen vorschlagen, degradierte dies die Spitzenkandidaturen zu einer Farce. Es wäre schädlich für das Parlament. Noch schädlicher wäre es für das Ansehen Europas bei jenen, die gewählt haben. Und alle, die das nicht getan haben, würden sich in ihren Vorurteilen bestätigt fühlen.

© SZ vom 24.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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