Deutschland von unten (III):Das Leben vor und in der Glotze

Das Drama ist der Alltag: Hartz IV, Furz Drei und die Geheimnisse des so genannten Unterschichtenfernsehens, in dem es nur bedingt um Bildung geht.

Von Holger Gertz

Es ist schwierig, einen Termin bei Borris Brandt zu bekommen, er hat verdammt viel zu tun. Im Büro geht gar nichts, hatte seine Mitarbeiterin am Telefon gesagt, auch abends nicht, abends hat er noch eine Besprechung. Bleibt nur die Zugfahrt, zwischen zwei Sitzungen, nachmittags vielleicht, da kommt er aus Frankfurt und muss nach Köln, 15 Uhr fährt der ICE ab, der Platz für Borris Brandt sei reserviert. Wagen 28, Platz 36.

Borris Brandt fährt Erste Klasse.

Er sieht auch erstklassig aus, Hemd und Dreiteiler, der Bart auf Viertageslänge getrimmt. Seine Turnschuhe, weinrot mit gelben Streifen, sind der einzige Farbtupfer in Wagen 28, in dem sonst die Boss-Träger sitzen, Frankfurter Banker vielleicht. Es riecht nach teurem Aftershave, aus Aktentaschen lugt das Handelsblatt. In der Ersten Klasse rauscht die Upperclass, die Oberschicht durchs Land, und irgendwie sind die bunten Turnschuhe des vergnügten Borris Brandt wie ein Signal dafür, dass er da nicht so richtig hineinpasst. Die Tür schließt sich mit leisem Fauchen.

Borris Brandt reist mit der Oberschicht. Aber er ist im Auftrag der Unterschicht unterwegs.

Das Leben vor und in der Glotze

Brandt, 44, war Werbekaufmann, selbständiger Unternehmensberater, er hat viel Fernsehen gemacht, als Programmdirektor bei Pro Sieben, jetzt bei Endemol Deutschland. Endemol produziert "Big Brother", die berühmte Brandt, 44, war Werbekaufmann, selbstständiger Unternehmensberater, er hat viel Fernsehen gemacht, als Programmdirektor bei Pro Sieben, jetzt bei Endemol Deutschland. Endemol produziert "Big Brother", die berühmte Sendung, in der sich Menschen bei praktisch allem, was sie tun, abfilmen lassen. Brandt ist seit 2001 bei Endemol Geschäftsführer. Er hat viel Fernsehen gemacht, und neuerdings hat sein Fernsehen auch einen Namen: Unterschichtenfernsehen.

Ein Bier am Morgen

Harald Schmidt hat den Begriff eingeführt, genauer gesagt hat er ihn abgekupfert bei Soziologen, die ihn nicht zynisch verstehen, sondern beschreibend. Unterschichtenfernsehen ist das, was bei den Privaten zu sehen ist. Busen werden vergrößert, Lippen aufgespritzt, jemand sagt "Scheiße", jemand weiß nicht, wo der Kölner Dom steht, jemand trinkt schon am Morgen Bier. Man kann Klingeltöne bestellen, sie heißen zum Beispiel Furz Drei. Ein Leben zwischen Furz Drei und Hartz IV.

Unterschichtenfernsehen ist: Tätowierungen haben. Keine Arbeit haben. Sich die Fußnägel lackieren und sich dabei laut die Frage stellen, ob man sie sich mal wieder schneiden soll. Sich die Nägel schneiden, vor der Kamera. Das kommt öfter vor, bei Big Brother, das live auf Premiere zu sehen ist und in Zusammenfassungen bei RTL 2, dem Kernsender der so genannten Unterschicht.

Im Unterschichtenfernsehen werden Unterschichtler von Unterschichtlern gesehen. Die Gesellschaft für Konsumforschung hat das gerade ermittelt: Arbeitslose sehen im Schnitt täglich 5 Stunden und 17 Minuten fern, anderthalb Stunden mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie schauen gern Talkshows und Reality-Serien; sie informieren sich eher bei RTL aktuell als bei der Tagesschau. Sie sehen anders fern als die Reisenden in Wagen 28. Sie sind anders.

Das Leben vor und in der Glotze

Borris Brandt hat das auch alles gelesen, aber er ist einer, der die Dinge so dreht, dass sie sich besser anhören. Er ist Anwalt seines Publikums. Wenn jemand aus den Umfragen herausliest, seine Klientel würde die Nachrichten in der Tagesschau nicht verstehen, interpretiert er das um: Seine Klientel entscheide sich bewusst für andere Nachrichten. Borris Brandt ist ein Freund des selbstbestimmten, mündigen Bürgers.

Es ist eine angenehme Position. Sie enthebt ihn der Verantwortung. Wenn jemand sagt, sein Programm erziehe das Publikum zu öffentlichen Fußnägelschneidern, hackt er mit dem Zeigefinger in die Luft. Wie wenn jemand auf eine unsichtbare Fernbedienung drückt. "Die Erziehungsaufgabe übernehmen immer noch die Eltern. Es gibt eine Fernbedienung, und Macht über die Fernbedienung haben die Fernsehbesitzer, und das sind die Eltern."

Draußen ziehen Wiesen mit Kühen drauf vorbei. Er sagt, er könnte auch als Bauer arbeiten. Er ist unabhängig. Er trägt Turnschuhe zum Dreiteiler. Wäre er von irgendwas abhängig, könnte man ihn festnageln. Das will er nicht.

Er sagt: "Bei dem Fernsehen, was wir machen, ist ja kein großer Bildungsauftrag dahinter." Allerdings schauten das nicht nur Arbeitslose, sondern vor allem Hausfrauen, auch Kinder von 14 bis 19. Etwas lernen kann man übrigens doch, bei Big Brother. "Wie fängt Streit an, wie lebt man mit Streit, wie hört Streit auf. Und Beziehungsanbahnen. Das lernen tatsächlich Kids bei uns."

Bei Big Brother lief das Beziehungsanbahnen am Tag zuvor so ab: Der Mann sagt: "Ich bin wirklich gut im Bett, sag ich jetzt ohne Scheiß." Die Frau sagt: "Man sagt ja, wenn ein Typ gut tanzen kann, ist er auch gut im Bett." Der Mann sagt: "Ich kann tanzen wie ein junger Gott. Ohne Scheiß. Richtig geil."

Wer einen Tag RTL 2 schaut, sieht also, wie bei Big Brother Beziehungen angebahnt werden. Er sieht schlecht gemachte Zeichentrickfilme. Werbung für Handyklingeltöne, Tierfilme über australische Beutelwölfe, die in toten Tieren herumwühlen. Irgendwann kommen ein paar Minuten Nachrichten, die news heißen und sich ausführlich der Schwangerschaft von Britney Spears widmen.

Nachts kommen Kriminalgeschichten: "Autopsie - Burning Bodies". Es ist absurd zu glauben, dass jemand, der so ein Fernsehen fünfeinhalb Stunden am Tag sieht, davon nicht erzogen würde.

Wer am selben Tag Arte einschaltet, den Kulturkanal auf der anderen Seite der Fernbedienung, sieht morgens Berichte über fast vergessene Regisseure des Film noir, später einen Bericht aus einer Waldorfschule, danach eine Dokumentation über den Völkermord an den Armeniern und schließlich ein italienisches Schwarz-Weiß-Drama von 1946.

Das Leben vor und in der Glotze

RTL 2 bildet ab. Arte bildet. Beides ist Fernsehen, mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht.

Borris Brandt schaut nicht Arte, es ist auf seiner Fernbedienung zu weit hinten, nach Vox und Viva, und Vox liegt schon auf Programmplatz 19. Er weiß nicht, wie man das umprogrammiert. Technisch, sagt er, ist er die totale Null. Es ist einer der seltenen Momente zwischen Frankfurt und Köln, in denen er zugibt, etwas nicht besonders gut zu können.

Am Morgen vor der Zugfahrt hatten wir einen Mann getroffen, der von Brandt so weit entfernt ist wie RTL 2 von Arte. Paul Nolte, Professor an der International University in Bremen, draußen vor der Stadt. Nolte ist einer der Erfinder des Wortes Unterschichtenfernsehen, er hat es in einem Buch untergebracht, und jetzt, seit Harald Schmidt es abends den Zuschauern serviert, ist der Begriff auf dem Weg, das Wort des Jahres zu werden.

Paul Nolte hatte in seinem Büro eine kleine Zeitreise veranstaltet und erzählt, wie jemand, der in den zwanziger, dreißiger Jahren arbeitslos war, versucht hat, in einen Arbeiter-Bildungs-Verein zu kommen, seinen Sonntagsanzug sauber zu halten, sich trotz allem eine gute Stube einzurichten: das Bürgertum zu imitieren. Damals gab es noch kein Fernsehen. Jetzt, sagt Nolte, zerstreuen sich viele aus der neuen Unterschicht vorm Fernseher, der ihnen eine Heimat gibt. Bei Big Brother spielen sie immer diesen Jingle ein, ein paar Töne auf den Text: "Hier ist deine Welt."

Gespenster und Meinungen

Unten, vor Noltes Büro, liegen viele Bücher in den Schränken, ein besonders dickes heißt: "Gespenster: Meinungen, Medien, Theorien". Natürlich sind die Medien auch so ein Gespenst, sie sind schuld daran, dass den Menschen der Antrieb abhanden gekommen ist, sich wieder rauszuarbeiten. So steht das manchmal in den Zeitungen, aber so einfach ist das nicht, sagt Paul Nolte.

Es gibt zu wenig Arbeit. Die Eltern geben sich nicht genug Mühe mit den Kindern. Die Schulen sind in jämmerlichem Zustand. Die Politik liefert kein Vorbild. Es kommt immer viel zusammen, sagt Nolte, 41 Jahre alt, ein großer, spitzgliedriger Mann, Vater eines zehnjährigen Jungen, der im Fernsehen gern die Sendung "Wissen macht Ah""anschaut. Sie läuft im Ersten, nicht bei den Privaten. Typisch für ein Professorenkind, aufgewachsen mit Büchern und Eltern und Lehrern, die sich kümmern.

"Es gibt ja viel Lehrreiches in den Medien. Schauen sie sich an, was zum Einsteinjahr alles geboten wird. Dann die neuen Wissensmagazine der Verlage. Aber das erreicht vor allem die, die sich sowieso schon mit Wissen auseinander setzen. Wenn ich meinen Sohn sehe, denke ich: Toll, dass du dir so was anschaust. Aber andere Kinder hätten das vielleicht noch nötiger."

Das Fernsehen ist nicht verantwortlich. Aber es vergrößert die Kluft zwischen Zeit-Lesern und Bild-Lesern. Zwischen Arte-Fans und Big-Brother-Fans. Es macht nur die Klugen klüger, stand neulich im Spiegel. Professor Nolte sagt, so kann man es sehen.

Das Leben vor und in der Glotze

In Wagen 28 sitzt Borris Brandt und schaut dem Süßigkeitenwagen hinterher, den eine Frau durch den Mittelgang schiebt. Er bestellt nichts. Er muss auf sein Gewicht achten, sagt er, er sei so ein Typ, der nur an einer Bratwurstbude vorbei gehen muss, schon wird er dicker. Noch ein paar Minuten bis Köln, wo viel Unterschichtenfernsehen gemacht wird. In den Soaps ist dauernd der Dom im Hintergrund zu sehen, wie ein alter, grauer Mann sieht er aus, der sich anschaut, was die jungen Leute so treiben.

Jetzt, wo man den Dom schon fast sehen kann, erzählt Brandt die Geschichte von Zlatko, dem Star der ersten Big Brother Staffel. Zlatko wohnt auch in Köln. Also, mit Zlatko haben sie ein paar Fehler gemacht bei Endemol. Er kann das sagen, er war damals noch nicht Geschäftsführer. Er ist unabhängig. Sie hätten ihm klarmachen müssen, dass er nach wie vor Zlatko ist, kein Popstar.

Zlatko wollte aber einer sein. Dabei konnte er kein Instrument, konnte auch keine Noten lesen, und er sang wie eine erkältete Hyäne. Brandt lacht und gluckst ein bisschen dabei. Was Zlatko jetzt macht? "Der schraubt Autos und ist mit seiner Dings zusammen, seiner Ische." Ische ist vermutlich so was wie eine Frau.

Es gibt aber noch eine andere Zlatko-Geschichte, aus der sich eine Entwicklung in der Gesellschaft lesen lässt. Als es vor fünf Jahren mit Big Brother losging, konnten die Menschen, die sich dort ausstellen ließen, noch richtige Stars werden, wenigstens für ein paar Wochen. Es war die Zeit, als der Proletenstyle auch bei Mittelständlern schick zu werden begann und das über dem Steiß angebrachte Tattoo, das so genannte Arschgeweih, über dem Hintern vieler Jurastudentinnen seinen Platz fand.

Der zwar arbeitslose, aber tätowierte Industrie-Mechaniker Zlatko Trpkovski trimmte sich im Big-Brother-Container das Brusthaar mit der Küchenschere und sagte, die Werke Shakespeares seien "Deppengeschwätz". Bald gab es Shakesbier in den Läden, und Zlatko wurde in einen Anzug gesteckt, einen weißen, und durfte sogar bei der Grand-Prix-Vorentscheidung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen singen. Sein Lied enthielt die Zeile "Ich bin zwar nicht perfekt / doch ich gehe hier nicht weg." Wie gesagt: Das Lied war ein Irrtum.

Das Leben vor und in der Glotze

Zlatko war bald wieder weg. Er hatte der Unterschicht, die bis dahin kaum sichtbar geworden war, vorübergehend ein Gesicht gegeben, das Gesicht eines Clowns. Aber dann gab es immer mehr Arbeitslose, 5,2 Millionen sind eine Zahl gewordene Bedrohung.

Es kam Hartz IV, die Jungs und Mädels, die sich ins Fernsehen verirrt hatten, konnten nicht mehr einfach staunend begafft werden, sondern wurden zu einem Menetekel, wohin es noch führen kann, auch mit den Mittelschichtlern, wenn es mit der Wirtschaft weiter bergab geht.

Eltons Auftrag

Die Helden von Big Brother sind seitdem keine Helden für alle mehr, sondern führen ein stabiles Nischenleben in ihrem Programm, bei den Privaten, bei ihrem Publikum, dem sie eine Heimat geben. Wer sich sein Weltbild im Privatfernsehen zusammenzimmert, wird bei Pro7 einen Menschen namens Elton sehen, der nicht singen kann und nicht tanzen kann und nicht moderieren kann. Der nichts kann. Er sieht ein bisschen aus wie Elton John, deshalb heißt er so. Ihm länger als fünf Minuten zuzusehen ist eine Qual. Dass ihm trotzdem so viele länger zusehen, beweist, dass er Bedürfnisse befriedigt.

Vielleicht ist es doch so, wie die Soziologen sagen, dass das Privatfernsehen denen da draußen, die so ähnlich sind wie Elton, das Gefühl gibt, trotz allem irgendwie durchzukommen. Und dass ein Fernsehen mit einem Bildungsauftrag bei den Eltons da draußen das Gefühl verstärkt, ein Verlierer zu sein. Dass am Ende die Gesellschaft immer weiter auseinander driftet. Und daran ist doch auch das Fernsehen schuld, Brandts Fernsehen. Weil es mehr erzieht, als er zugeben will. Und weil es nicht darauf angelegt ist, etwas zu verändern.

Der Zug fährt ein. Borris Brandt, einer der wenigen Männer, die Borris heißen, Borris mit zwei R, erzählt, wie geschickt sich jene Kandidaten bei Big Brother, die auf dem Bauernhof arbeiten, schon beim Melken anstellen.

Er sagt, es wird vielleicht eine Zeit kommen, wo diejenigen die glücklichsten sind, die Wasser haben und eine Kuh im Stall. Manchmal hat er so Weltuntergangsphantasien, in denen die Big-Brother-Menschen sich gut behaupten. So vorbereitet, wie sie sind.

Borris Brandt steigt aus dem Zug. In Köln stehen Bratwurstbuden an den Gleisen. Brandt läuft daran vorbei, aber entgegen seiner Ankündigung wird er nicht sofort dicker.

Man muss wohl nicht alles so ernst nehmen, was er sagt.

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