Gauck auf USA-Reise:Europa und die USA sollten sich an stabile Bündnisse erinnern

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Europa verzagt, die USA ignoriert. Der amerikanische Traum verblasst. Bundespräsident Gauck mahnt in Philadelphia, ihn wieder auszuleuchten. Zurecht.

Kommentar von Stefan Kornelius

Inzwischen sind die großen Migrantenströme über den Atlantik hinweg versiegt. Die Hunderttausenden, die vor allem im 19. Jahrhundert, aber auch während der europäischen Gemetzel zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Heil in den USA gesucht haben, - sie haben sich verewigt in der Nationalpsyche eines Landes. Unterdrückt in der Enge Europas, ausgezehrt von wirtschaftlicher Not und politischer Unfreiheit, machten sich nicht zuletzt viele Deutsche auf, um in dem sagenhaft großen und (im Vergleich zu den zersplitterten europäischen Verhältnissen) einigen Land politische Freiheit und den industriellen Aufbruch zu erfahren. Das hatten nur die USA zu bieten.

Der Enge und der Unterdrückung Europas entkommen, waren es vor allem die Deutschen und die Briten, die Amerika prägten. Mit geradezu religiöser Inbrunst kreierten sie einen Staat, der leuchten und sich immer wieder neu erfinden sollte.

"Heilige Stätten der Demokratie"

Der deutsche Bundespräsident ist jetzt auf der Suche nach diesem Staat, wenn er in Philadelphia die Freiheitsglocke besichtigt und die Unabhängigkeitshalle, in der die älteste Verfassung der Welt geschrieben wurde. Von "heiligen Stätten der Demokratie" spricht Gauck nicht ohne Pathos, und in seiner bemerkenswerten Rede zu den Freiheiten und Werten dieses transatlantischen Bündnisses klingt ein Traum von einem Amerika durch, der für nicht wenige inzwischen verblasst ist.

Jedes Jahrzehnt kennt seine transatlantischen Schwächephasen, doch seit 9/11 hat sich eine Verzagtheit in den Beziehungen festgesetzt, die inzwischen in Desinteresse und offene Ablehnung umgeschlagen ist. Auf der Suche nach dem Mythos Amerika sind so tiefe Bruchstellen entstanden, dass deren Überwindung zu viel Mühe bereitet. Gauck ist da womöglich ein nachholender Reisender, ähnlich wie Angela Merkel zu Beginn ihrer Kanzlerschaft. Es sind nicht zufällig ostdeutsche politische Karrieren, die sich den Blick auf den amerikanischen Wesenskern bewahrt haben - und die heute noch bereit sind, die politische Vorbildrolle der Vereinigten Staaten anzuerkennen.

Der Westen versagt bei der Suche nach neuen Gemeinsamkeiten

Dennoch leugnen ja weder Gauck noch Merkel, dass diese transatlantische Beziehung erodiert. Der Wettbewerb um die Auslegung und Abwägung von Werten, wie Gauck es nennt, führt selbstverständlich zu Spannungen, weil der "Westen keine Monokultur" ist. Allerdings hat den Westen auch immer ausgezeichnet, dass er auf der Grundlage seiner gemeinsamen Werte das Gespräch über diesen Pluralismus suchte, den Austausch und Wettbewerb der Ideen und Meinungen. Dieser Streit fehlt heute. An seine Stelle sind Arroganz und Selbstgerechtigkeit getreten.

Die große Auswandererwelle in die USA im 19. Jahrhundert wurde möglich, weil die Menschen mobil wurden und plötzlich informiert waren. Die industrielle Revolution war der Katalysator dieser Freiheitsbewegung. Individualität und Mut wurden belohnt.

Heute durchlebt der Westen ähnlich umwälzende Zeiten. Die digitale Revolution und die Globalisierung haben neue Wanderungsbewegungen ausgelöst und erzwingen eine ganz neue Definition von Freiheit und Individualität. Der Westen aber bemüht sich nicht mal um eine gemeinsame Antwort, er flüchtet stattdessen in Verzagtheit (Europa) und Ignoranz (USA).

Diese Haltung verdrängt die historischen Lehren. Man muss nicht in die Katastrophenzeiten der Weltgeschichte zurückgehen, um den Wert stabiler Bündnisse zu sehen. Es reicht der Blick auf das 18. und 19. Jahrhundert, auf die vielen Europäer, die ihre Ideale in den Westen trugen, um sie verwirklichen zu können. Wie sinnfällig, dass es auch heute wieder Flüchtlinge sind, die Europa vor Augen führen, welche Kraft in Menschen steckt, die Not leiden.

© SZ vom 07.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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