Deutschland und Großbritannien:Merkels Furcht vor dem Brexit

G7 Japan 2016 Ise-Shima - Day 1

Verbündete: der britische Premier David Cameron und Bundeskanzlerin Angela Merkel, hier beim G-7-Treffen im Japan

(Foto: Getty Images)
  • Angela Merkel steckt in einer Zwickmühle: Die Vernunft verbietet ihr, vor den Briten ein Plädoyer für den Verbleib in der EU zu halten.
  • Dabei würde ein Austritt der Briten nach dem Verständnis der Bundesregierung die EU insgesamt infrage stellen.
  • Trotz der Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft säße Berlin ohne London sehr allein am Brüsseler Verhandlungstisch.

Von Stefan Kornelius

Als Angela Merkel im Februar 2014 vor dem britischen Parlament sprach, zeigte sie eine Gabe, die sie in der Öffentlichkeit selten vorführt, die sie im stillen Kämmerlein aber beherrscht: ihren trockenen, geradezu britischen Humor.

Einerseits solle sie die große europäische Reformagenda hier und heute präsentieren, lamentierte Merkel vor den Lords und Abgeordneten. Andererseits erwarte man von ihr, den Briten Grenzen für ihre Begehrlichkeiten aufzuzeigen. Sie stecke also, so Merkel, in einer Zwickmühle, ein "nicht gerade angenehmer Aufenthaltsort - zumindest nicht für die deutsche Bundeskanzlerin". Das Haus quiekte vergnügt. Eine Kanzlerin in der Zwickmühle - für einige eine durchaus angenehme Vorstellung.

Aus dieser unbequemen Position hat sich Merkel bis heute nicht wirklich befreien können. Wenige Wochen vor der britischen Entscheidung über Verbleib oder Austritt aus der EU muss es bei der Kanzlerin innerlich brodeln, aber die Vernunft verbietet ihr, in das britische Wespennest zu greifen und vor der Abstimmung ein Plädoyer für die EU zu halten.

Es geht schlicht um alles

Grund dazu hätte Merkel, denn vermutlich kein zweites Land in Europa würde nach einem britischen Austritt derart große Nachteile erleiden wie Deutschland. Die deutsche Briten-Liebe lässt sich nicht auf irgendwelche Handelsdaten oder Marktregularien reduzieren. Für Deutschland ginge es bei einem britischen EU-Austritt schlicht um alles.

Ein Austritt der Briten würde nach dem Verständnis der Bundesregierung die EU insgesamt infrage stellen. Die Fliehkräfte, die bereits jetzt schon in der Union wirken, würden beschleunigt, auch andere Staaten würden mit dem Austritt oder zumindest mit der Forderung nach Sonderkonditionen liebäugeln. Der wachsende Chor der Euro- und EU-Kritiker vor allem am rechten Rand in Deutschland würde an Selbstbewusstsein gewinnen. Kurzum: Ein Austritt würde eine fatale Dynamik auslösen und das Bild einer sich selbst zerstörenden, schwachen, unattraktiven Gemeinschaft aussenden - ein Bild, das die Bundesregierung ganz besonders nicht in Russland oder China abgeben möchte.

Für ein Land, das seinen Daseinszweck mit der EU verknüpft hat, das seine Staatsraison und sein Geschichtsverständnis auf die Gemeinschaft abgestellt hat, wäre der Austritt der drittgrößten Nation ein fataler Schlag. "Die EU liegt ganz tief in der DNA von Nachkriegsdeutschland", sagt ein hoher Beamter in Berlin. Und mit dieser DNA kann man nicht experimentieren.

Strategische Interessen und banale taktische Gründe

Neben dem großen historischen und strategischen Interesse haben die Deutschen aber auch banale taktische Gründe, warum sie die Briten an ihrer Seite wissen wollen. Sonst wird es dort nämlich einsam. Da mögen Bundespolitiker noch so viele heilige Schwüre auf die deutsch-französische Freundschaft leisten - ohne London wäre Berlin sehr alleine am Brüsseler Verhandlungstisch. Einen "Bruder im Geiste" nennt ein Regierungsbeamter aus Berlin die Briten.

Ob Freihandel, Wirtschaftspolitik, Subventionen, Kartellrecht, Finanzpolitik - überall findet Berlin mehr Gemeinsamkeit mit London als mit fast jeder anderen EU-Nation. Ob Digitalisierung, Service, Binnenmarkt oder Deregulierung - oft sind es die Briten, die das Tempo machen und damit eine wichtige Türöffnerfunktion für die Bundesregierung übernehmen. Die Erfahrung der letzten Jahre mit dem immer stärkeren Deutschland lehrt nämlich, dass Initiativen aus Berlin fast schon aus Prinzip abgelehnt werden. Deutschland braucht Verbündete, um seine Interessen wirkungsvoll zu platzieren.

Mit den Briten teilen die deutschen Regierungsvertreter auch den globalen Anspruch der EU, einer Gemeinschaft auf Augenhöhe mit den Wirtschaftsriesen USA und China. Fiele Großbritannien aus dieser Gemeinschaft, Europa würde wieder etatistischer, protektionistischer, kleinkrämerischer werden.

Da sitzen sie nun also in Berlin und schauen verzagt auf die Insel. Viel tun kann man wohl nicht. Wenn einer anfragt aus Großbritannien, dann übt man sich im Außenministerium in der Zerstörung von Mythen: Nein, nach einem "Out" werde es keine Neuverhandlungen geben; und nein, es gebe auch keine Ausnahmen für den Binnenmarkt. Abschreckungstaktik. Und für alle, die nach der Liebe der Deutschen für die Briten fragen: Es gibt die Rede der Kanzlerin vom Februar 2014.

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