Deutschland und die USA:Minderwertigkeitskomplex des kleinen Bruders

President Obama Visits Berlin

Partner auf Augenhöhe? US-Präsident Obama mit Kanzlerin Merkel bei seinem Berlin-Besuch im Juni.

(Foto: Getty Images)

Die USA, das ist der große Bruder, der alles kontrollieren will. Das ist die Meinung, die hierzulande vorherrscht. Dass die Schnüffelei der NSA unter Obama geschieht, den die Deutschen anfangs als "ihren Präsidenten" betrachtet haben, verstärkt die Wut. Dabei wäre es angebracht, den Partner Amerika weniger zu dämonisieren.

Ein Kommentar von Joachim Käppner

"Die Retter kommen heute Nacht nicht heim. Denn sich selbst haben sie nicht retten können." Diese Verse von A. E. Housman kritzelte ein amerikanischer Soldat im Sommer 1944 in sein Tagebuch, als er in der Normandie vor den vielen Gräbern seiner Kameraden stand. 2014 jährt sich der D-Day und damit der Beginn der Befreiung Europas von der Tyrannei der Nazis zum 70. Mal. Greise Veteranen werden noch einmal berichten vom großen Sterben am Omaha Beach und vom Durchbruch der Alliierten durch den Atlantikwall. Schon sehr bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die erzählen können von diesem "guten Krieg", wie der US-Autor Studs Terkel schrieb, einem Feldzug, in dem Gut und Böse noch in einer Klarheit definiert waren, die Amerikas Kriegen, gerade jenem gegen den Terror, heute so fehlt.

Die Retter, die nicht mehr heimkamen, sind auch für die Deutschen gestorben. Die Amerikaner haben Westeuropa von ihnen befreit und schließlich die Deutschen von sich selbst; sie haben sie über Jahrzehnte beschützt und ihnen sogar den Weg zur Wiedervereinigung geebnet. Dennoch ist aus dem großen Bruder, der eine irregeleitete Nation zurück in den Kreis zivilisierter Staaten führte, hierzulande in einer verbreiteten Wahrnehmung George Orwells Großer Bruder geworden, der alles beherrschen und alles kontrollieren will. Die Wut über die NSA-Schnüffelei wird noch befeuert dadurch, dass sie unter Barack Obama geschieht, den die Deutschen anfangs als "ihren Präsidenten" betrachtet haben. Enttäuschte Liebe aber ist bekanntlich der schlechteste Ratgeber.

Unterschwellig leiden viele Deutsche und leidet ein Teil der deutschen Politik unter einem tiefen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Vereinigten Staaten. Krisen im Verhältnis zu den USA werden, wie der Diplomat John Kornblum feinsinnig festgestellt hat, in Deutschland weniger als politische Herausforderung denn als emotionale Katastrophe begriffen. Wenn der Freund nicht so ist, wie ihn die Deutschen gern hätten, reagieren manche wie in einer Beziehungskrise. Sie wollen den Konflikt nicht wahrhaben - oder sie dämonisieren den Partner.

In Sachen Sicherheit halten die USA Deutschland für einen zaudernden Zwerg

Nichts hat Ersteres anschaulicher demonstriert als der Washington-Besuch des Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich. Er kehrte heim, beglückt wie ein devoter Schuljunge, dass ihm der Vizepräsident die Hand geschüttelt hatte. Der dankbare Minister verkündete nachher unter Berufung auf US-Geheimdienste, das fragwürdige Prism-Programm habe Terroranschläge in Deutschland verhindert. Nur leider fehlt der rechte Beleg, und Diensten wie jenen, welche die Gründe für den Irak-Krieg 2003 erfanden, traut man eher nicht mehr von selbst.

Die Bundesrepublik hat nichts zu verlieren, wenn sie in der NSA-Affäre von Washington entschlossen Aufklärung verlangt. Sollten die Vorwürfe des Whistleblowers Edward Snowden zutreffen, haben die Spähangriffe der NSA deutsche Grundrechte massiv verletzt. Ein demokratischer Rechtsstaat muss sich derlei nicht bieten lassen, auch und gerade nicht von einer befreundeten Regierung. Aus Washingtoner Sicht ist Deutschland als stärkste Kraft in der EU noch immer ein wichtiger Verbündeter; in Sicherheitsfragen aber halten die USA die Bundesrepublik eher für einen zaudernden Zwerg. Und genau als solchen scheint die NSA den deutschen Partner auch behandelt zu haben. Die Furcht, den großen Freund zu brüskieren, hilft hier nicht weiter.

Vom Musterschüler zum Besserwisser

Tief verankert ist der Minderwertigkeitskomplex aber auch bei den Amerika-Kritikern. Die konservative Amerika-Schmähung - das selbstgerechte Lamento über Materialismus und Kulturlosigkeit der USA, gar über die "Siegerjustiz" 1945 - ist fast ausgestorben. Doch die Überheblichkeit Amerika gegenüber lebt fort, längst meist im Gewand des Fortschritts. Es hat Zeiten gegeben, da zogen linke Demonstranten mit Plakaten wie "USA=SA=SS" durch die Straßen. Bei vielen Deutschen, die sich für sehr freiheitlich halten, lebt oft unbewusst eine Haltung fort, die den Amerikanern nicht verzeihen kann, dass die Deutschen sich eben nicht vor sich selbst retten konnten. Aus dem Musterschüler der Nachkriegsjahre ist ein Besserwisser geworden, der dem Idol und Lehrmeister von einst das Übelste zutraut. Das Netz ist voll von plumpen Parolen gegen die USA, und manche schrille Äußerung aus dem Oppositionslager zeugt vom selben Geist.

Viele Deutsche denken bei Sicheheit an Gestapo und Stasi

Weit hilfreicher wäre, wenn Deutsche und Amerikaner sich wieder verstehen lernen würden - denn das ist die Grundlage jeder Freundschaft. Die Rechtskulturen beider Staaten etwa sind sehr unterschiedlich. In der deutschen Rechtsprechung gibt es den Trend, die Bürgerrechte so weit zu fassen, dass potenziell gefährliche Täter immer früher freikommen. Das Leid möglicher neuer Opfer tritt dahinter zurück. In den USA ist es umgekehrt: Kriminelle werden so rücksichtslos weggesperrt, dass Menschenrechtsorganisationen von Folter sprechen, etwa durch jahrelange Isolationshaft.

Ähnlich geht es im Kampf gegen den Terror zu: Vielen Menschen in Deutschland - wo es noch keinen Anschlag mit Hunderten Toten gab - erscheint der Drang des Staates nach mehr Sicherheit als das eigentliche Problem; sie denken an Gestapo und Stasi. In den USA ist für die Sicherheit viel erlaubt, sehr viel mehr zumindest, als gut für den Rechtsstaat ist.

Freunde könnten solche Unterschiede aushalten. Aber dazu müssen sie auf Augenhöhe miteinander sprechen. Die Bundesregierung geriert sich jedoch, als sei ja gar nichts Schlimmes geschehen. Dabei wäre es an ihr, deutsches Recht zu verteidigen. Teile der Opposition und der öffentlichen Meinung tun so, als sei praktisch jede Form des Nachrichtenaustauschs zwischen deutschen und amerikanischen Diensten bereits ein Verstoß gegen Datenschutz und Bürgerrechte. Deutschland müsste nun eine klare, feste Haltung gegenüber Washington beziehen. Frühere Bundesregierungen haben dies in weit gravierenderen Streitfällen getan, als sie sich weigerten, deutsche Soldaten in die Kriege nach Vietnam oder in den Irak zu schicken. Offenkundig ist jetzt ein "code of conduct" nötig, wie sich Nachrichtendienste bei befreundeten Staaten verhalten dürfen, und vor allem: wie nicht.

Vor wenigen Wochen, am Brandenburger Tor, hat Präsident Obama die gemeinsamen Werte zweier freier Völker gepriesen und dabei sein Jackett abgelegt: Unter Freunden müsse man nicht so formal sein. Betrachtet man die deutsche Geschichte, ist die Gemeinsamkeit dieser Werte und die Freundschaft zu den USA eine ihrer größten Errungenschaften. Aber manchmal braucht es sehr viel mehr als lässige Gesten, sie zu bewahren.

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