US-Präsident Joe Biden hat der Ukraine den Einsatz von US-Waffen längerer Reichweite erlaubt. An Deutschlands Nein zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörper soll das nach dem Willen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nichts ändern. Er habe „sehr klar begründet, warum ich die Lieferung von Marschflugkörpern Taurus nicht für richtig halte“, sagte Scholz am Montag Rande des G-20-Gipfels in Rio de Janeiro. Dabei bleibe es. „Wir haben Prinzipien, die wir beachten, und an die wir uns halten“, betonte er.
In seinen letzten Wochen im Amt hat der US-Präsident der Ukraine erstmals zugestanden, Raketen des Typs ATACMS mit einer Reichweite von mehreren Hundert Kilometern unter bestimmten Voraussetzungen gegen Ziele in Russland einzusetzen, wie die New York Times am Sonntag öffentlich machte. Dies solle vor allem bei der Abwehr russischer Angriffe im Gebiet Kursk helfen. Hier hatte die ukrainische Armee im August erstmals russische Gebiete besetzt. Der Kreml wertete die Freigabe von US-Raketen als „Verwicklung westlicher Staaten in den Krieg“.
Auch Pistorius sieht „keine neue Lage“
Bekannt wurde die Entscheidung, während sich der Bundeskanzler auf dem Weg zum G-20-Gipfel in Rio de Janeiro befand. Nach Angaben aus seinem Umfeld wurde er vorab vom amerikanischen Präsidenten informiert. Bisher hatte sich Scholz stets stark an Biden angelehnt, wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine ging und sich gegen „Alleingänge“ gewandt. Auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte beim Spatenstich für ein Werk zur Produktion von Patriot-Abwehrraketen im bayerischen Schrobenhausen: „Aus der amerikanischen Entscheidung ergibt sich keine neue Lage in der Taurus-Frage.“
Scholz sieht in der Bewaffnung der Ukraine mit Taurus aber die Gefahr einer Eskalation mit Russland und hat Zweifel geäußert, ob der Einsatz ohne deutsche Beteiligung möglich wäre. Auch in Rio de Janeiro verwies er darauf, dass er keine Mitverantwortung für die Zielsteuerung übernehmen wolle. Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums betonte, alle von Deutschland bisher gelieferten Waffen fielen nicht in die Kategorie der weitreichenden Waffen.
Bisher gibt es nur eine theoretische Mehrheit für Lieferungen
Die Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometern haben eine besondere Zerstörungskraft. Zwar gäbe es im Bundestag eine theoretische Mehrheit von Union, FDP und Grünen für eine Lieferung, aber zum einen bliebe das letztlich eine Entscheidung des Kanzlers, zum anderen befinden sich die Grünen mit der SPD in einer Minderheitsregierung nach dem Bruch der Ampel. Die SPD lehnt die Freigabe ab.
Während Scholz der Frage auswich, lobte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Bidens Entscheidung. „Selbstverteidigungsrecht bedeutet eben, dass man nicht abwarten muss, bis eine Rakete in ein Kinderkrankenhaus oder in eine Schule oder auch in einen ganz normalen Wohnblock einschlägt.“ Zum erneuten Nein des Kanzlers zur Taurus-Lieferung sagte sie, man dürfe sich von Drohungen aus Russland nicht verunsichern lassen. „Putin spielt ganz bewusst mit unserer Angst in Europa.“ Baerbock setzt sich schon länger für Taurus-Lieferungen ein. Die Grünen sehen sich aber an die Koalitionsdisziplin gebunden.
Scholz scheint entschlossen, die Frage im beginnenden Bundestagswahlkampf zu thematisieren, wo er seinen Kurs der Abwägung herausstreichen will. So griff er Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz wegen dessen Positionierung in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung scharf an und zog dessen charakterliche Eignung für das Amt des Kanzlers in Zweifel. Merz habe zunächst die Lieferung gefordert und diese Forderung dann vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst fallen gelassen. „Und kaum waren die Wahlen vorüber, sagte er, er würde Russland ein 24-Stunden-Ultimatum stellen und ihn dann doch liefern. Ein solcher Zickzack-Kurs in einer so entscheidenden Frage in so gefährlichen Zeiten spricht nicht für einen klaren Kompass“, kritisierte Scholz.
Am Freitag hatte er auch erstmals seit langer Zeit mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis sagte hierzu in Brüssel, solche Anrufe müssten aus einer Position der Stärke kommen, „nicht aus einer Position der Schwäche“. Mit einer Taurus-Lieferung könne man Russland „rote Linien“ aufzeigen.
In den Tagen nach dem Telefonat wurde die Ukraine erneut massiv angegriffen von Russland, ein Ziel war die Energieversorgung – die Strategie scheint zu sein, mit Ausfällen der Strom- und Wärmeversorgung im Winter die Moral der Bevölkerung zu brechen, es könnte auch zu neuen Fluchtbewegungen nach Europa kommen. Völlig unklar ist bisher, wie sich die Lage nach Amtsantritt der neuen US-Regierung von Donald Trump im Januar entwickeln könnte. Befürchtet wird ein „Deal“ mit großen Gebietsverlusten für die Ukraine.