Sie ist noch ein kleines Kind, als ihre Eltern in den 1990er-Jahren vor dem Bürgerkrieg in Afghanistan fliehen. Die Familie kommt nach Deutschland, im Kindergarten ist kein Platz, also geht sie in die Schule. Bloß nicht auffallen, lieber Mittelmaß sein. Das ist Waslat Hasrat-Nazimis Credo. Schon früh wird sie als die andere, die Ausländerin beschimpft. Und trotz der Diskriminierung, obwohl sie bewusst und unbewusst ausgegrenzt wird, beißt sie sich durch. Geht aufs Gymnasium, auch ohne Empfehlung der Grundschule. Studiert, auch wenn ein Lehrer ihr das nicht zutraut. Wird Chefin der Afghanistan-Abteilung bei der Deutschen Welle. Ist inzwischen privilegiert, wie sie selbst einräumt.
Aber trotzdem lebt sie mit dem Gefühl, hier nicht erwünscht zu sein, sich viele Dinge, die für Deutsche ohne Migrationshintergrund völlig normal sind, immer wieder neu erkämpfen zu müssen oder sie gar nicht erst erreichen zu können.
In ihrem ersten Buch hat Hasrat-Nazimi, Jahrgang 1988, in einer spannenden Mischung aus persönlichen Erlebnissen und Analysen die Wiederannäherung an ihr Geburtsland Afghanistan beschrieben. Mit dem wollte sie lange Jahre nichts zu tun haben, um den Prozess ihres Deutschwerdens und der Anpassung nicht zu gefährden. Ohne Pathos, ohne zu beschönigen. Und das hat es besonders hervorgehoben aus den Büchern, die nach der Rückkehr der Taliban an die Macht in Kabul im Jahr 2021 erschienen sind.
Ist die Lage wirklich so schlimm, fragt die Autorin rhetorisch
Nun hat Hasrat-Nazimi ein neues Buch vorgelegt, es verknüpft wieder ausführliche Gespräche mit eigenen Reflexionen. Aber die Autorin lotet dieses Mal weniger aus. Das steckt schon im Titel: „Rausländer. Unsere Koffer sind gepackt. Die katastrophalen Folgen von Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung“. Da kommt die Botschaft gleich vom Cover und wird früh ausgeführt: „In den letzten Monaten fürchte ich immer häufiger, dass ich ein weiteres Mal in meinem Leben aufgrund von Bedrohung und Verfolgung flüchten muss.“
Auswandern, aus Deutschland, ist die Lage tatsächlich so katastrophal? Ja, findet Hasrat-Nazimi: „Für Nichtbetroffene mögen diese Überlegungen schockierend klingen, vielleicht auch übertrieben, überdramatisch.“
Das Buch ist bewusst einseitig. Es geht um individuellen, institutionellen und strukturellen Rassismus in Deutschland. Es geht um Begriffe wie Remigration und Überfremdung, die AfD hat sie in die Gesellschaft hineingetragen, auch die Medien übernähmen solche Wörter zu unreflektiert, findet Hasrat-Nazimi. Sie nimmt die Perspektive ein von Menschen mit Migrationshintergrund. Sie fragt bei vielen Migrantinnen und Migranten nach, was ihre Entfremdung verursacht habe.
Gleichsetzung mit Gewalttätern ist weitverbreitet
Es geht um die Menschen, die im Supermarkt durchsucht werden, wenn sie nichts gekauft haben, weil sie eben nicht wie Deutsche ohne Migrationshintergrund aussehen und des Diebstahls bezichtigt werden. Die besonders häufig von der Polizei kontrolliert werden wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft. Die bereits den Schritt ins Ausland gegangen sind. Die, wenn sie noch hier leben, zu oft Antworten für anderen Migranten geben sollen. „Wie fühlen sich Menschen, die regelmäßig in den Nachrichten hören oder lesen müssen, wie sie mit Gewalttätern gleichgesetzt werden, nur, weil sie zufällig dieselbe Herkunft teilen?“, fragt die Autorin. An den Rand gedrängt, entwürdigt. Eigentlich könne sich Deutschland diesen Umgang mit Migrantinnen und Migranten wegen des Fachkräftemangels gar nicht leisten, schreibt Hasrat-Nazimi. Das stimmt, und über weite Passagen ist das eine unangenehme, aktuelle und wichtige Lektüre.

Dem Buch fehlen aber auch Elemente: Die Anschläge von Aschaffenburg, Magdeburg und München werden nur am Rande erwähnt. Warum hat sich nicht nur bei der wachsenden Zahl der AfD-Anhänger, sondern auch in anderen politischen Lagern das Gefühl verstärkt, Deutschland habe zu viele Migranten aufgenommen? Welche gemäßigten Stimmen gibt es etwa in der CDU, die jenseits des Pascha-Populismus nach einer die Gesellschaft einenden Migrationspolitik suchen, ohne sich von der AfD treiben zu lassen und ohne von links als AfD-getrieben diffamiert zu werden? Oder gibt es sie gar nicht mehr? Überlegungen der Autorin dazu wären spannend.
Ein Schlichtungskonzept gegen die verhärteten Fronten fehlt
„Ist Migration wirklich das zentrale Thema unserer Zeit, oder geht es nicht vielmehr um die Notwendigkeit, Ressourcen umzuverteilen?“, fragt Hasrat-Nazimi am Ende im Nachtrag zur Bundestagswahl 2025. Sie macht Vorschläge, was sich ändern müsste, plädiert für eine zielgenaue Änderung im Grundgesetz, um Diskriminierung und Rassismus wirksamer zu bekämpfen. Sie fordert konkreter gefasste Schulprogramme, eine Reform des Antidiskriminierungsgesetzes und macht sich auch ausführliche Gedanken über ein AfD-Verbot.
Ein Schlichtungskonzept für eine polarisierte Gesellschaft steckt in dem Buch nicht. Deutschland im Jahr 2025: Die Zahl der Wähler wächst, die von der AfD mit offenen Armen und populistischen Parolen empfangen und die von der Merz-CDU wieder stärker in den Fokus gerückt werden sollen. Auf der anderen Seite stehen die Deutschen mit Migrationshintergrund, die sich von diffamierender Rhetorik und bewusster Ausgrenzung in ihrer Existenz bedroht fühlen. Der Befund der Autorin: Die deutsche Gesellschaft hat viele Migrantinnen und Migranten an den Rand gedrängt, sich schon bei den Gastarbeitern keine Gedanken gemacht, wie sie integriert werden könnten. Und begeht heute neue, kapitale Fehler.