Deutschland nach der Wahl:Aufstieg der Ich-Politiker

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FDP-Chef Lindner (im Vordergrund) im Bundestag mit Bundeskanzlerin Merkel (CDU), Außenminister Gabriel (SPD), Innenminister de Maizière (CDU) und Justizminister Maas (SPD) (von rechts nach links) (Foto: dpa)

Union und SPD sind in die Mitte gerückt, FDP-Chef Lindner hofft als Mini-Macron auf Wählerzulauf von den Rändern. Ein Häutungsprozess des politischen Systems hat begonnen - mit unabsehbarem Ende.

Kommentar von Stefan Kornelius

Manchmal lohnt ein Blick über die Grenzen, um zu verstehen, was im eigenen Land passiert. Die Regierungsbildungskrise in Deutschland hat nämlich Geschwister in anderen westlichen Demokratien. Was sich heute in Berlin abspielt, lässt sich ähnlich in Paris, London oder Washington verfolgen. Auch wenn politische Systeme nie deckungsgleich, auch wenn die Symptome überall unterschiedlich sind, so findet sich in den Demokratien des Westens mehr oder weniger derselbe Infektionsherd einer Krankheit: ein Parteiensystem, das aus einer verblassten Zeit stammt; ein politisches Ordnungsmuster, das die gesellschaftlichen Lager der Gegenwart nicht mehr binden kann.

Niemand hat die Auflösung von Milieus und die Bindungsschwäche der modernen Wähler besser erkannt und genutzt als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er hat sich blitzschnell von den traditionellen französischen Parteien gelöst und eine Bewegung gegründet, die mit einem schillernden Modernitätsversprechen um seine Person funktioniert.

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Parteiensysteme lösen sich auf, die Macht sortiert sich neu

Noch konsequenter, aber ohne erkennbaren Gestaltungsplan hat Donald Trump die großen Lager der amerikanischen Politik zertrümmert. Schon immer war in den USA die Personalisierung bei der Präsidentschaftsentscheidung wichtiger als die Lagerbildung entlang klassischer Links-rechts-Bruchlinien. Trump hat nun einen Führungstypus geschaffen, der überhaupt keine Partei mehr braucht und überall Nachahmung finden wird.

Überhaupt ist die Personalisierung, die Reduktion von Politik auf den starken, mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein ausgestatteten (männlichen) Führertypen, der beherrschende Trend dieser Zeit. Es waren solche Typen (wie Boris Johnson oder Michael Gove), die die britische Politik auf eine tödliche Frage reduzierten: Rein oder raus aus der EU. Selbst das klar strukturierte britische Parteiensystem war den Fliehkräften nicht mehr gewachsen, die das Brexit-Votum auslöste. Tories und Labour mögen sich noch im Parlament gegenübersitzen, in Wahrheit sind sie längst wertlose Hüllen.

Deutschland ist ein besonderer Fall in dieser Systemkrise. Kaum eine andere Demokratie ist so sehr auf Stabilität ausgelegt, kaum ein System gibt seinen Parteien solche Bedeutung bei der Machtbildung. Allerdings setzt es zwei Bedingungen: Die Parteien müssen die Macht wollen, und sie müssen sich im Kompromiss üben. Die vergangenen Tage waren auch deshalb so traumatisch, weil die Verweigerungshaltung von SPD und FDP den seit 1949 eingeübten Weg zur Willensbildung in Frage gestellt hat: keine Lust auf Regierung, kein Kompromiss.

Wie Lindner in Zukunft als eine Art Mini-Macron agieren will

Diese Verweigerung ist in gewisser Weise nachvollziehbar, die Parteien folgen einem Überlebensinstinkt. Der Zwang zum Kompromiss hat nämlich alle Parteien in die politische Mitte getrieben, weil dort die größten Wählergruppen warten. Die zwangsläufige Folge: Die Ränder werden vernachlässigt, es entsteht ein Vakuum. Niemand scheint diese Dynamik besser verstanden zu haben als FDP-Chef Christian Lindner, der (noch dazu ausgestattet mit dem Charismatiker-Gen) Wählermilieus ausgemacht hat, die momentan nur notdürftig oder überhaupt nicht mehr von der Mitte-fixierten Merkel-CDU oder der zum Kompromiss verdammten SPD gebunden werden. Lindner will auf den Tag nach Merkel warten. Dann, so glaubt er wohl, wird er als eine Art Mini-Macron diese Milieus kapern können.

Deutschland wurde vor der Wahl auch deshalb als Stabilitätsgarant in Europa gefeiert, weil die alten Gesetze der Parteiendemokratie noch zu gelten schienen. Die schwarz-rote Koalition war das parteipolitische Äquivalent zum außenpolitischen Stabilitätsversprechen. Deutschlands neue Rolle in Europa ist die des Ausgleichers - wie ein Lademeister muss deutsche Politik auf die Balance eines schwankungsanfälligen Schiffs achten. Für diese ausgleichende Rolle braucht es Festigkeit im Inneren, keine wechselnden Mehrheiten, keine Zufallsentscheidungen.

Als der neue Bundestag am ersten Sitzungstag über die Rückzahlung einer irischen Rettungstranche entscheiden sollte, bangte die Inselrepublik um die Mehrheit in Berlin. Sie kam zustande - mit den Stimmen von Jamaika und nicht von Schwarz-Rot. Aus solchen Zufallsergebnissen erwächst keine Verlässlichkeit.

Der Häutungsprozess des westlichen Systems hat also begonnen und nun auch Deutschland erfasst. Hochflexible und volatile Gesellschaften erwarten eine flexible Politik, die Ich-Gesellschaft verlangt nach einem Ich-Politiker. Ob die traditionellen Parteien diese Revolution überleben, ist nicht ausgemacht. Seit einer Woche wissen sie aber, was wirklich auf dem Spiel steht.

© SZ vom 27.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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