Süddeutsche Zeitung

Deutschland nach der Europawahl:Warten auf den "lustigen Wahlkampf"

Jubeln oder die Scherben zusammenfegen: Am Tag nach der Europawahl stellen sich die deutschen Politiker den Ergebnissen - mit teils frappierendem Optimismus.

Trotz der beispiellosen Schlappe der SPD bei der Europawahl sieht die Parteispitze keinen Anlass für einen Politikwechsel oder eine Führungsdiskussion. SPD-Chef Franz Müntefering sagte in Berlin, Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier habe weiter "die volle Unterstützung und die volle Solidarität" des SPD-Präsidiums. Müntefering bekräftigte das Ziel seiner Partei, bei der Bundestagswahl im September vor der Union stärkste Kraft zu werden und Steinmeier so die Kanzlerschaft zu ermöglichen. "Dieses Ziel haben wir nicht zu korrigieren", meinte Müntefering. Die SPD wolle Schwarz-Gelb verhindern und erreichen, dass die Sozialdemokraten die Politik in Deutschland bestimmen können.

Die Sozialdemokraten hatten bei der Europawahl am Sonntag eine historische Niederlage eingefahren und nur 20,8 Prozent der Stimmen erhalten - weniger als bei allen anderen bundesweiten Abstimmungen seit 1945. Müntefering sagte, die Schlappe sei keine Vorentscheidung für die anstehenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl Ende September. Dann werde die Wahlbeteiligung ungleich höher sein und die SPD könne ihr Potenzial ausschöpfen.

Müntefering kündigte an, es werde im August und September im Wahlkampf "eine Zuspitzung geben" und es werde das Duell Steinmeier gegen Angela Merkel beginnen. "Das gehört zur Demokratie auch dazu und ist gar nichts Besonderes." Weiter sagte er: "Das wird noch ein richtig lustiger, aktiver Wahlkampf."

SPD-Vizechefin Andrea Nahles betonte: "Die Spitzenkandidatur steht überhaupt nicht zur Diskussion." Sie nannte das Wahlergebnis einen "Schlag in die Magengrube". Die SPD habe ihre Wähler nicht an die Urne gebracht. Defizite gebe es vor allem in den großen Städten. Die Schlappe sei aber auch eine Motivation, jetzt bis zur Bundestagswahl zu kämpfen, sagte sie.

Der Vorsitzende der Linken, Oskar Lafontaine, hat unterdessen "Mobilisierungsprobleme" seiner Partei bei der Europawahl eingeräumt. Die Wähler, die Hartz IV bezögen, arbeitslos seien oder kleine Renten hätten, seien einfach so enttäuscht, "dass sie bei Europa schon gar nicht mehr zur Wahl hingehen", sagte Lafontaine im Saarländischen Rundfunk. "Und das trifft uns natürlich besonders." Dieses Problem habe aber auch die SPD. "Die Sozialdemokraten haben hier in Deutschland ein Desaster erlebt", fügte der Linken-Chef hinzu. Seine eigene Partei hat am 7. Juni 7,5 Prozent der Stimmen bekommen.

Merkel: "Gute Basis für die nächsten 110 Tage"

In den Augen von Kanzlerin Angela Merkel haben sich nach der Europawahl die Chancen der Union für die Bundestagswahl weiter verbessert. Die Union war am Sonntag mit 37,9 Prozent (2004: 44,5 Prozent) stärkste Kraft geworden. Zwar sei die Wahl am Sonntag keine Testwahl für die Abstimmung am 27. September gewesen, sagte Merkel nach den Beratungen der CDU-Spitzengremien in Berlin. Sie zeige aber einen Trend auf. "Alles in allem: eine gute Ausgangsbasis für die nächsten 110 Tage", sagte Merkel. Sie fügte hinzu, dass ihre Partei nie den Respekt vor den Wählern verlieren dürfe.

Schon in den vergangenen Wochen habe es der Union gut getan, dass sie "mit den Füßen auf dem Boden geblieben ist". Merkel führte die Verluste der SPD auf den ungeklärten Kurs der Sozialdemokraten zurück. So sei es schwer herauszufinden, ob die SPD nun zufrieden mit der Regierungsarbeit sei oder in der Opposition sei.

Auf der einen Seite wollten die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl mit der FDP eine rote Ampel bilden, auf der anderen Seite redeten sie der Linkspartei nach dem Munde. SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier sei der Protagonist der Agenda 2010, spreche aber zugleich von einem Neustart der sozialen Marktwirtschaft. "Es passen die Dinge nicht zusammen", sagte Merkel.

"Ein gewisser Herr Schulz"

Die CSU-Spitze richtet sich unterdessen auf einen harten Bundestagswahlkampf ein. Parteichef Horst Seehofer sagte nach Beratungen des CSU-Vorstands in München, die Bundestagswahl Ende September sei "längst nicht entschieden". Ziel bleibe eine schwarz-gelbe Koalition. Seehofer betonte zugleich, die CSU sei zuletzt stark als Team aufgetreten. Es sei ihr gelungen, bei der Europawahl die Anhängerschaft zu mobilisieren. Die Stimmung sei jetzt konstruktiv gelöst, aber nicht euphorisch. Bei der Bundestagswahl handele es sich nicht um eine "gemähte Wiese".

Die CSU will nach der Niederlage der SPD bei der Europawahl keinen Sozialdemokraten mehr als EU-Kommissar akzeptieren. Bei der anstehenden Neubildung der EU-Kommission unterstützt die CSU vielmehr die Forderung der CDU, die den deutschen Kommissars-Posten für sich reklamiert. "Die CDU ist die Partei, die am längsten keinen Kommissar mehr gehabt hat", sagte Seehofer. "Wir werden einer Kommission, der ein gewisser Herr Schulz angehört, die Zustimmung verweigern", sagte CSU-Europagruppenchef Markus Ferber. Die SPD fordert den Posten für ihren Spitzenkandidaten Martin Schulz. Seehofer sagte, damit habe die SPD "auf das völlig falsche Pferd gesetzt".

Künast: "SPD muss ihren roten Faden selbst finden"

Die Grünen sehen sich nach ihrem 12,1-Prozent-Rekordergebnis bei der Europawahl und dem teils unerwartet guten Abschneiden bei den Kommunalwahlen voll in ihrem Kurs bestätigt. Die Grünen-Spitze führte das Resultat auf die konsequente Verbindung von Wirtschaft und Umwelt im Wahlprogramm zurück. Die Grünen hätten sich in den Augen der Wähler klare Wirtschaftskompetenz erarbeitet, sagte Parteichef Cem Özdemir in Berlin. "Da verstehen wir was davon." Anders als die Konkurrenz hätten die Grünen zudem klar "aufs Thema Europa gesetzt".

Neue Akzente hinsichtlich möglicher Koalitionen nach der Bundestagswahl wollten die Grünen trotz der Schwäche des Wunschpartners SPD nicht setzen. An der Tatsache inhaltlicher Schnittmengen mit der SPD "wird sich nie was ändern", sagte Spitzenkandidatin Renate Künast. Allerdings müsse die SPD "ihren roten Faden selber finden, wir haben einen grünen, und dem folgen wir alle", so Künast weiter.

Co-Spitzenkandidat Jürgen Trittin sagte: "Wir wollen im Herbst dritte Kraft werden. Wir wollen damit verhindern, dass mitten in der Wirtschaftskrise Schwarz-Gelb eine Mehrheit bekommt." Auf die Frage, ob sich die Grünen dann nicht weiter in Richtung Schwarz-Grün öffnen müssten, sagte Trittin lediglich, dass die Grünen nicht als Helfershelfer für Union und FDP in Form eines gemeinsamen Jamaika-Bündnisses zur Verfügung stünden.

Westerwelle will die Kirche im Dorf lassen

Die FDP sieht sich nach ihrem Rekordergebnis bei der Europawahl auf dem Weg zur Regierungspartei im Bund. "Die Chance für eine bürgerliche Mehrheit ist größer geworden", sagte Parteichef Guido Westerwelle in Berlin: "Wir werden unseren Beitrag dazu leisten."

Eine Ampelkoalition mit SPD und Grünen bezeichnete Westerwelle als Alptraum. Dies sei eine virtuelle Debatte ohne jedweden Hintergrund. Dass die SPD den Kanzler stellen könnte, sei völlig unrealistisch angesichts der 20,8 Prozent, die sie bei der Europawahl erreicht habe. "Da muss man doch mal die Kirche im Dorf lassen." Der eigentliche Gewinner der Europawahl sei seine Partei, sagte Westerwelle. Das Ergebnis sei eine Absage sowohl an eine große Koalition als auch an linke Mehrheiten.

Der FDP-Chef räumte ein, dass das Ergebnis nicht eins zu eins auf die Bundestagswahl übertragbar sei und für die FDP noch eine Menge Arbeit leisten müsse. "Wir werden nicht abheben, sondern bleiben auf dem Teppich." Den Erfolg begründete Westerwelle damit, dass viele Menschen eine Politik wollten, "die die Mittelschicht wieder ernst nimmt" und nicht nur an die Großkonzerne denke.

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