Süddeutsche Zeitung

Deutschland:Landlust, Landfrust

Das Hinterland ist ein wertvoller Kulturraum, er bietet gerade wegen der Ansprüche der urbanen Gesellschaft viele Chancen. Wer es aufgibt, fördert nur die Wutbürger und schwächt jene, die dort Neues aufbauen.

Von Thomas Hahn

Ökonomen haben es gut. Sie zimmern sich ihr Weltbild aus Zahlen. Sie sammeln die Zahlen, rechnen mit ihnen, vergleichen sie. Die Forscher bewerten die Daten nach dem einfachsten denkbaren Prinzip, wonach hohe Zahlen für Stärke stehen und niedrige für Schwäche. Sie machen einen Strich darunter und dann kommt so ein Ergebnis heraus, wie es das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle zuletzt in seiner Bilanz nach 30 Jahren deutscher Einheit vorgestellt hat. "Wenn sich die Wirtschaftskraft zwischen Ost und West weiter annähern soll, muss man vor allem die Städte stärken", sagen die Wissenschaftler des Instituts und schicken damit eine bittere, im Grunde sogar gefährliche Botschaft in die entfernteren Regionen der Republik: Ihr bringt es nicht, man muss euch aufgeben.

Wenn man sich nicht nur für Zahlen interessiert, sondern auch für Menschen, wird die Welt etwas komplizierter. Und bei allem Verständnis für die Regeln der Marktwirtschaft, fragt man sich manchmal, wo die Statthalter des Profitdenkens ihre gesellschaftliche Verantwortung gelassen haben. Natürlich, 30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Frage nach der inneren Einheit wichtig. Die Brüche sind auch im Deutschland von 2019 noch unübersehbar. Aber wenn man sich ernsthaft mit ihnen befassen will, darf man nicht die gleichen Fehler machen, die einst den großen Kater in die Gebiete der früheren DDR brachten. Die Starken stärken, die Abgehängten endgültig abhängen, lautet letztlich die Empfehlung der Halleschen Wirtschaftsforscher. Diese Empfehlung ist in vielerlei Hinsicht weltfremd und befördert genau jene dumpfe Rücksichtslosigkeit, die das schlechte Verhältnis vieler Menschen zum vereinigten Deutschland bis heute prägt.

Das Hinterland ist ein wertvoller Kulturraum, der gerade wegen der Ansprüche der urbanen Gesellschaft viele Chancen bietet. Überall im Bundesgebiet. Natürlich auch in den östlichen Teilen. Zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern, das so dünn besiedelt ist wie kein anderes Bundesland. Ballungsräume gibt es dort nicht so viele, dafür ein Gut, das in den wachsenden Metropolen des Konjunkturhochs knapp wird: Platz. Platz für Landwirtschaft, Platz für Windräder, Platz für Tourismus, Platz für Wohnraum.

Niederländische Bauern fliehen hierher vor der Enge ihrer Heimat. Das Land ist ein Energiewende-Standort. Als Urlaubsziel ist es gefragt. Und schon jetzt suchen viele gestresste Städter hier ihr Altersidyll. Gleichzeitig ist in weiten Landesteilen das Lohnniveau zu niedrig, der öffentliche Nahverkehr zu dünn, das Internet zu schwach. In Mecklenburg-Vorpommern hat eine Zukunft begonnen, in der es Lösungen für den demografischen Wandel braucht. Die 207 000-Einwohner-Stadt Rostock gedeiht bis an die Grenzen des Möglichen, das Hinterland ringt um Anschluss. Welchen Sinn ergibt es, die Infrastruktur ausgerechnet dort noch mehr zu fördern, wo sie ohnehin schon ausgebaut wird, und dafür dem Rest keine Aussicht auf bessere Busanbindung und bessere ärztliche Versorgung zu bieten?

Die Städte seien die zentralen Orte der Wissensgesellschaft für Forschung, Innovation und Wertschöpfung, argumentieren die Wirtschaftsforscher des Leibniz-Instituts. Klar, aber wie klug die Wissensgesellschaft wirklich ist, zeigt sich eben vor allem bei der Frage, wie sie das Hinterland am Leben teilhaben lässt.

Die Empfehlung aus Halle ist eine Ohrfeige für alle, die sich in den sogenannten strukturschwachen Gegenden jeden Tag mit den Nachteilen ihres Standorts arrangieren. Zahlendenken und Westarroganz haben nach der Wende viele Einheimische an den Rand der Gesellschaft gedrückt. Der unrentable Überwachungsstaat der DDR wurde abgewrackt, zum Glück. Aber kaum jemand hat sich damals Gedanken darüber gemacht, wie Leute leiden, wenn plötzlich ihre gewohnten Sicherheiten weg sind und der eigene Stolz so gut wie nichts mehr gilt. Viele haben sich etwas Neues aufgebaut, andere versanken im Frust über ihre wegrationalisierte Identität. Die einen sind heute Optimisten, die anderen Wutbürger. Sie prägen das Bild von Mecklenburg-Vorpommern und brauchen Signale der Anerkennung. Wer den ländlichen Raum aufgibt, fördert die Wut der einen und verbrennt den Optimismus der anderen.

Das Geschäft mit den Investitionen ist tatsächlich nicht einfach. Nach der Wende ist viel Geld in falsche Projekte geflossen. Man sieht in Mecklenburg-Vorpommern die verwitterten Altbauten öffentlicher Wohnungsgesellschaften, in die der Staat einst besinnungslos Geld steckte ohne zu bedenken, wer dort mal leben soll - heute stehen sie zum Teil leer. Insofern ist es schon richtig, dass man nicht blind das Fördergeld übers Land schütten darf. Aber den ländlichen Raum in den jüngeren Bundesländern aufzugeben, wäre fatal. Der ländliche Raum ist ihre Chance. Die Dörfer haben genug geblutet. Die Menschen, die dort geblieben sind, hätten einen guten Plan für ihre Zukunft verdient.

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SZ vom 07.03.2019
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