Konjunktur:Mit einem Lichtblick in die Rezession

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Die Konsumlaune der Bürgerinnen und Bürger, hier im Biergarten im Ostpark in München, hat die Wirtschaft gestützt. Doch so wird es nicht bleiben, das sagen Experten voraus. (Foto: Wolfgang Maria Weber/Imago)

Die deutsche Wirtschaft wächst im zweiten Quartal dieses Jahres überraschend um 0,1 Prozent. Es könnte jedoch die letzte positive Nachricht vor Beginn einer längeren Talfahrt gewesen sein.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Es ist "eine kleine positive Überraschung" in einer ansonsten trüben Zeit, so hat es am Donnerstag Thomas Gitzel, der Chefvolkswirt der Liechtensteiner VP-Bank, treffend zusammengefasst: Die deutsche Wirtschaft ist im zweiten Quartal dieses Jahres leicht gewachsen, trotz anhaltender Corona-Pandemie, trotz des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, trotz explodierender Gas- und Lebensmittelpreise. Zwar fiel das Plus im Vergleich zum Vorquartal mit 0,1 Prozent denkbar gering aus. Viele Experten hatten jedoch mit einer Stagnation oder gar einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gerechnet.

Die Frage ist nun: Ist die deutsche Wirtschaft in einer so robusten Verfassung, dass sie all die negativen Einflussfaktoren einfach an sich abprallen lässt? Oder ist das leichte Wachstum nicht mehr als ein letztes Aufbäumen vor dem unvermeidlichen Absturz in die Rezession? Glaubt man den Ökonomen, dann müssen sich Bürger, Unternehmen und Regierung wohl auf letzteres Szenario einstellen. Angesichts der dramatisch steigenden Gas- und Strompreise kämen im Herbst und im Winter massive Kosten auf die Menschen zu, sagte etwa Sebastian Dullien, Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf. Die bisherigen Finanzhilfen der Ampelkoalition reichten "bei Weitem nicht", um diese zusätzlichen Belastungen auszugleichen. Deshalb stehe die Wirtschaft schon jetzt "am Rande der Rezession".

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Dass ein Abrutschen in die roten Zahlen im Frühjahrsquartal noch einmal hatte verhindert werden können, war vor allem der Kauflaune der Bürgerinnen und Bürger zu verdanken. Angesichts sinkender Corona-Zahlen und milderer Krankheitsverläufe strömten die Menschen in die Geschäfte, Restaurants und Theater, sie besuchten Freizeitparks, belagerten Flughäfen und Bahnhöfe, erholten sich in Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen. Auch der Staat gab mehr Geld aus, sogar der Außenhandel legte trotz gestörter Lieferketten und wegbrechender Exporte nach Russland zu. Allerdings verlief die Entwicklung in den einzelnen Branchen und Wirtschaftszweigen sehr unterschiedlich. Während die Aufhebung der meisten Corona-Beschränkungen etwa den Dienstleistungssektor stark beflügelte, mussten vor allem energieintensive Branchen wie die Chemie- und die Metallindustrie Rückschläge hinnehmen.

Im Vergleich zum zweiten Quartal des Vorjahres legte das BIP inflationsbereinigt um 1,8 Prozent zu. Damit erreichte die gesamtwirtschaftliche Leistung erstmals wieder das Niveau von Ende 2019, dem letzten Quartal vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Die Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stiegen im Jahresabstand um durchschnittlich 6,1 Prozent. Das zeigt, dass die Arbeitgeber auf die hohen Inflationsraten der vergangenen 18 Monate reagierten und die Kaufkraftverluste vieler Beschäftigten zumindest teilweise ausglichen.

Die EZB könnte genau jenen Absturz einleiten, den sie unbedingt hatte verhindern wollen

Als Fluch und Segen zugleich für die deutsche Wirtschaft erwies und erweist sich der ungemein schwache Euro, der insbesondere gegenüber seinem US-Pendant dramatisch an Wert eingebüßt hat. Viele Reisende erhielten zuletzt für einen Euro nicht einmal mehr einen Dollar, vor einem Jahr waren es noch fast 1,20 Dollar gewesen. Für die stark exportorientierte deutsche Wirtschaft bedeutete das einerseits, dass sie ihre Waren preisgünstiger und damit leichter in die USA verkaufen konnte und kann - wenn die Unternehmen denn angesichts der gestörten Lieferketten einen Spediteur finden, der die Produkte verschifft oder per Luftfracht über den Atlantik bringt. Umgekehrt müssen Firmen und Verbraucher für Importe, die in Dollar abgerechnet werden, erheblich mehr zahlen als etwa noch vor zwölf Monaten. Das gilt beispielsweise auch für Rohöl, Ölprodukte und einen Teil der Gaseinfuhren. Die wegen des Ukraine-Kriegs ohnehin dramatisch gestiegenen Rohstoffkosten werden also durch die Wechselkursentwicklung noch weiter in die Höhe getrieben. Oder anders ausgedrückt: Zusätzlich zum Preisdruck daheim importieren Deutschland und Europa auch noch Inflation.

Der Versuch der Europäischen Zentralbank (EZB), die zuletzt auf 8,9 Prozent gestiegene Teuerungsrate spürbar und vor allem nachhaltig zu senken, wird dadurch weiter erschwert. Dabei sind die anstehenden Leitzinserhöhungen der EZB zugleich Teil der Lösung wie Teil des Problems: Einerseits dürfte eine deutliche Straffung der Geldpolitik dazu führen, dass der Euro für Kapitalanleger attraktiver wird, einen Teil der Wertverluste gegenüber dem Dollar wettmacht und als Inflationstreiber an Bedeutung verliert. Andererseits wächst mit jeder Anhebung die Gefahr, dass die Notenbank das Wachstum in Europa vollständig abwürgt und die Wirtschaft just in jene Rezession stürzt, die die Währungshüter durch ihre lange Zeit zurückhaltende Zinspolitik unbedingt hatten vermeiden wollen.

Kein Wunder also, dass die meisten Ökonominnen und Ökonomen die Perspektiven für die deutsche Wirtschaft alles in allem eher skeptisch beurteilen. "Ab der Jahresmitte dürften die konjunkturellen Abtriebskräfte überwiegen", sagte Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW-Bank, die ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr von 1,6 auf 1,4 und für 2023 von plus 1,2 auf minus 0,3 Prozent senkte. Ähnlich äußerte sich auch IMK-Chef Dullien. "Der Privatkonsum wird als Konjunkturstütze in den kommenden Monaten wegbrechen und dürfte im Winterhalbjahr sogar zu einer spürbaren Belastung für die Konjunktur werden", sagte er unter Verweis auf die massiv steigenden Energiepreise. Noch pessimistischer zeigte sich VP-Bank-Ökonom Gitzel: "Die Belastungsfaktoren sind derzeit so groß, dass selbst ein schärferer Abschwung nicht ausgeschlossen werden kann", sagte er. "Oder um es anders zu formulieren: Es müsste schon sehr viel Positives passieren, dass eine Rezession ausbleibt."

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