Deutschland:Es gibt Grund, stolz auf Deutschland zu sein - aber bitte leise

Flüchtlinge in Rottenburg

Ein freiwilliger Helfer des deutschen Roten Kreuzes spielt in einer Notunterkunft für Flüchtlinge in Rottenburg mit einem syrischen Mädchen.

(Foto: Wolfram Kastl/dpa)

Wohlstandsträge? Angstverliebt? Selbstbezogen? Nein. Die Deutschen sind im Krisenjahr 2015 nicht der Panik und dem Feinddenken verfallen. Bis auf ein paar wenige.

Kommentar von Matthias Drobinski

Dass einer stolz ist, ein Deutscher zu sein, steht meist auf Shirts gedruckt, die Leute tragen, denen man im Dunkeln nicht begegnen mag. Klopft man diesen Nationalstolz ab, klingt er hohl, feindlich gegenüber dem Fremden und unfähig auszudrücken, was nun gut ist am Deutschsein. Wer sonst stolz ist auf sein Heimatland, redet von Goethe und Gottlieb Daimler, von Willy Brandt, der Wiedervereinigung und Mario Götzes Weltmeistertor. Er tut das gedämpft, weil auch 70 Jahre nach der deutschen Katastrophe dieser Stolz gebrochen bleibt und es typisch für die Deutschen ist, alles zu tun, um nicht als typisch deutsch zu erscheinen. Doch ausgerechnet im Krisenjahr 2015 gibt es guten Grund, stolz auf dieses Land zu sein.

Es sind die Krisen dieser Welt den Deutschen durch den Vorgarten getrampelt. Mehr noch: Sie haben sich ins Wohnzimmer gesetzt. Es wankten der Euro und der Friede mit Russland. Man konnte miterleben, wie am Anfang und am Ende dieses Jahres Terroristen in Frankreich insgesamt fast 150 Menschen ermordeten. Und es sind vor allem eine Million Menschen nach Deutschland gekommen, auf der Flucht vor Krieg, Terror, Armut. Eine Million - hätte man dieses Szenario vor einem Jahr entworfen, man hätte das Bild von einem Land am Abgrund gezeichnet.

Es steht aber nicht am Abgrund. Dieses Land, das gern mal als wohlstandsträge, angstverliebt und selbstbezogen karikiert wird, hat sich als menschlicher, sozialer, flexibler, friedlicher und gelassener erwiesen, als das auch große Optimisten ihm zugetraut hätten. Die Menschen sind in ihrer großen Mehrheit im Jahr der Verunsicherung nicht der Panik, der Angststarre und dem Feinddenken verfallen. Sie waren in einer Weise pragmatisch, unaufgeregt und von einer erst euphorischen und dann dauerhaften Hilfsbereitschaft, die jeden erstaunen muss, der die German-Angst-Debatten der Achtzigerjahre und das Ausländer-raus-Geschrei in den Neunzigern kennt.

Ich erkläre euch mal Deutschland, unsere Heimat

Fast elf Prozent dieser Deutschen tun derzeit konkret etwas für Flüchtlinge - das sind mehr, als sich in Sportvereinen engagieren. Dazu gehören Menschen, die zwölf Stunden am Tag vorm Flüchtlingsheim helfen und andere, die mal ein paar Kleider vorbeibringen. Zu ihnen gehören jene, denen es lieber wäre, es kämen nicht so viele dunkelhäutige, bärtige Männer - und dann tapfer den Bärtigen Deutschunterricht geben. Zu ihnen gehören Migranten, die den Neuen sagen: Ich erkläre euch mal Deutschland, unsere Heimat. Dafür, dass die Moderne als Biotop der Ichlinge gilt, ist da ein ganz schön großes Wir gewachsen. Polizisten und Verwaltungsbeamte arbeiten bis an den Rand der Erschöpfung dafür, dass der Staat so funktionsfähig wie menschenfreundlich bleibt. Die Zustände im Berliner Lageso sind skandalös - aber dass sie ein Skandal sind und nicht der Alltag, sagt viel über die Stärke der deutschen Bürokratie.

Nein, man kann längst nicht auf alles stolz sein, was in Deutschland geschieht. Es gibt Anschläge gegen Flüchtlinge, die ebenso Terrorismus sind wie die des IS. Es gibt den dumpfen Hass bei Pegida-Demos und im Netz. Es gibt die Sorge, dass sich jene, die sich vergessen fühlen, von der Demokratie abwenden und dass das Land sich spaltet. Dass vieles besser läuft als gedacht, heißt nicht, dass alles gewonnen ist. Doch selbst die AfD mit ihrem wachsenden Rechtspopulismus ist nicht zu vergleichen mit dem offenen Fremdenhass der Französin Marine Le Pen.

Es gehöre zur Identität Deutschlands, Großes zu leisten, hat Angela Merkel auf dem CDU-Bundesparteitag im Dezember gesagt. Ganz stimmt das nicht, sonst hätte dieses Deutschland, allen voran die Kanzlerin, zum Silvestertag 2014 in die Hände gespuckt und gesagt: So, jetzt leisten wir mal was Großes. Das Land ist eher durch die diversen Krisen gestolpert wie ein Wanderer, der auf einem glitschigen Bergweg unversehens in den Nebel gerät. Nicht jeder Schritt wirkte durchdacht, nicht auf die Bürger, nicht auf die europäischen Nachbarn, die sich noch gut erinnerten, dass die Deutschen, die da nun Solidarität forderten, vor gar nicht so langer Zeit alles getan hatten, um sich die Flüchtlinge vom Hals zu halten.

Aber dieses Deutschland ist tapfer weitergegangen, mal in Tippelschritten und mal in Sprüngen, weil man kaum anders gehen kann in dieser Zeit. Mal ist es mehr gerutscht als gelaufen. Vom Weg abgekommen ist es nicht, der innere Kompass hat funktioniert. Moralisch überheben über andere Länder sollten sich die Deutschen nicht; wer das eigene Wesen dem anderen zur Genesung anbietet, ist vor allem ein unerträglicher Besserwisser. Aber leise stolz sein auf ein Land, das in der Krise über ziemlich viele seiner Schatten gesprungen ist - das dürfen sie schon.

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