Standort Deutschland:Wachse oder weiche

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Wird schon mit Deutschland, das ist die Botschaft von Olaf Scholz beim Tag der deutschen Industrie in Berlin. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Die Lage ist schlecht, die Stimmung ist schlechter: Beim Tag der Industrie wirbt der Kanzler um neue Zuversicht. Doch dann stiehlt ihm ein anderer die Schau.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Olaf Scholz kennt schwere Beine. „Wenn man viel sitzt, und danach nach langer Zeit wieder ans Laufen kommt, tut das am Anfang auch mal in den Beinen weh“, sagt der Bundeskanzler. „Das kann ich Ihnen sagen als jemand, der erst spät zum Joggen gekommen ist.“ Die Botschaft ist klar: Was Deutschland so an Problemen hat, wurzelt oft im Stillstand der Vergangenheit. Da war zwar Scholz auch schon an der Regierung beteiligt, aber das ist ein anderes Thema. Der Kanzler macht auf Aufbruch und Zuversicht: Wird schon mit Deutschland.

Der Industrieverband BDI hat zu seinem jährlichen Hochamt geladen, dem „Tag der Industrie“. In diesem Jahr aber ist vieles schwierig, auch und gerade für den Kanzler. Die deutsche Wirtschaft ist nervös, weil sie das schwache Wachstum oft ganz konkret in ihren Büchern vorfindet. Scholz wiederum steht einer Regierung vor, die auch aus Sicht der Industrie zu viel streitet und zu wenig entscheidet. Die Stimmung ist angespannt.

Man liegt im Clinch, aber von Frontalangriffen sieht der BDI-Chef ab

Kanzler und Industrie liegen seit gut zwei Monaten im Clinch. Damals, Anfang April, hatte BDI-Präsident Siegfried Russwurm in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung ordentlich ausgeteilt. Vorschläge aus der Industrie prallten am Kanzleramt ab, hatte Russwurm kritisiert. Wirtschaftspolitisch lägen „zwei verlorene Jahre“ zurück. Das saß. Scholz wiederum warf der Wirtschaft vor, sich zu sehr in Klagen zu verlieren. Davon profitierten nur Populisten, deren Geschäft allzu oft auf Angst und Schrecken beruht.

Bevor Scholz von seinen Beinschmerzen berichtet, ist BDI-Chef Siegfried Russwurm dran. Gemessen an den „verlorenen Jahren“ ist er schon fast geschmeidig, von Frontalangriffen sieht er auf der Bühne ab. Lieber redet er ausgiebig über die Aufgaben einer neuen EU-Kommission. Die müsse neben das Klimaschutzprogramm „Green Deal“ nun auch ein Industrieschutzprogramm setzen, einen „Pakt für die europäische Wirtschaft“. Scholz, in der ersten Reihe, hört die meiste Zeit mit verschränkten Armen zu – auch, als sich Russwurm Deutschland zuwendet: „Europa braucht Deutschland als Zugpferd“, sagt der Industriemann. „Das ist es derzeit nicht.“

Die Kapazitäten der Werke sind nur zu 80 Prozent ausgelastet

Tatsächlich sind die Zahlen derzeit bescheiden. Der Internationale Währungsfonds listet Deutschland für das laufende Jahr weiterhin auf dem letzten Platz der Industriestaaten, erst kommendes Jahr könnte es mit 1,3 Prozent Wachstum wieder aufwärtsgehen. Und auch der BDI rechnet in diesem Jahr nur mit 0,3 Prozent Wachstum, ähnlich wie die Bundesregierung selbst. Aber beklemmender noch sind die Zahlen aus den Unternehmen selbst: Um 1,5 Prozent könnte die Industrieproduktion in diesem Jahr sinken, die Kapazitäten in den Werken sind derzeit nur zu 80 Prozent ausgelastet. „Nur während der weltweiten Finanzkrise und zu Beginn der Corona-Pandemie waren die Kapazitäten schlechter ausgelastet“, klagt Russwurm.

Trotzdem sucht auch er an diesem Montag eher die Harmonie: Zu viel Bürokratie, zu hohe Steuern, zu teure Energie – Russwurm hechelt einmal über die üblichen Baustellen der Industrie. Jeden Angriff verkneift er sich, stattdessen begrüßt er Scholz als den Kapitän des „Teams Deutschland“. Fußballbilder sind beliebt in diesen Tagen.

„Alle warten auf Deutschland“, sagt der eben aus China zurückgekehrte Vizekanzler Robert Habeck beim Tag der Industrie. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Erst vorigen Freitag waren die Spitzen der deutschen Industrie im Kanzleramt zu Gast, mit Scholz sprachen sie vor allem über Energiefragen. Das Gespräch sei gut gewesen, der Kanzler habe ein offenes Ohr gehabt, berichten Teilnehmer. Bei früheren Treffen hatten die Verbände dieses Gefühl nicht immer gehabt. „Inzwischen gibt es auch im Kanzleramt ein Problembewusstsein“, sagt Russwurm.

Das allerdings dürfte nicht nur mit den Forderungen der Industrie zusammenhängen. Die Koalition steht nicht erst seit den Europawahlen unter Druck, und wie ihr bis nächste Woche eine Einigung zum Haushalt gelingen soll, steht in den Sternen. Mehr noch: Auch Scholz und Partner müssen größtes Interesse haben, dass spätestens zum Wahljahr 2025 die Wirtschaft wieder anzieht. Es gibt jeden Grund für Nervosität.

Habeck verbreitet das Selbstbewusstsein, das dem Land gerade abgeht

Wenn dem so ist, dann versteckt Scholz sie gut. Und nachdem er jeden Stillstand der Vorgängerregierung in die Schuhe geschoben hat, zählt der Jogger Scholz die vielen Beschleunigungen auf, die seine Regierung ins Werk gesetzt hat; zuletzt eine Reihe von Vereinfachungen in Genehmigungsverfahren. Infrastruktur, Netzausbau, Fachkräfteeinwanderung – überall habe die Koalition Bremsen gelockert. Scholz stellt mehr Digitalisierung in den Konsulaten in Aussicht, wo Visa ausgestellt werden, und für die Unternehmen weitere Möglichkeiten, ihre Investitionen von der Steuer abzuschreiben. „Wir müssen ein bisschen dafür sorgen, dass Zuversicht auf die Zukunft wieder entsteht“, liest der Kanzler vom Teleprompter ab. „Wenn die Jahre des Aussitzens vorbei sind, haben wir eine gute Zukunft vor uns.“ Die Industrie applaudiert höflich, aber nicht euphorisch.

Wenn das Ziel war, vor aller Augen Frieden zu schließen, dann ist das an diesem Tag gelungen. Selten habe er von Scholz so oft die Worte Tempo und Geschwindigkeit gehört, sagt Russwurm. „Dieser Zungenschlag gefällt uns allen heftig.“ Allerdings müssten nun Taten folgen. Am besten sofort.

Allerdings kann Scholz nicht verhindern, dass ihm kurz danach sein Wirtschaftsminister die Schau stiehlt. Erst Stunden zuvor ist Robert Habeck (Grüne) aus China zurückgekehrt, trotzdem wirkt er für den Moment ausgeschlafen. Jedenfalls so ausgeschlafen, dass er für Deutschland in Europa eine neue Führungsrolle beansprucht. Wie Toni Kroos, als hängende Spitze, müsse Berlin aus der zweiten Reihe führen. „Alle warten auf Deutschland“, sagt er. „Alle warten darauf, dass die Führungsrolle ausgefüllt wird.“ Habeck redet hastig, fast atemlos. Aber für einen Augenblick verbreitet er jenes Selbstbewusstsein, das dem Land und seiner Industrie anscheinend abgeht.

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