Deutsche Verbrechen an Herero und Nama:"Dieser Schritt ist unvermeidlich"

'Bericht zur Lage der Welt'- Wieczorek-Zeul

Von 1998 bis 2009 war Heidemarie Wieczorek-Zeul Bundesministerin für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit.

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Deutschland muss die Verbrechen in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen, fordert die frühere Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Das erfordere der Respekt vor den Opfern - und die eigene Glaubwürdigkeit.

Von Paul Munzinger

Heidemarie Wieczorek-Zeul saß von 1987 bis 2013 für die SPD im Bundestag. Von 1998 bis 2009 war sie Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 2004 reiste sie nach Namibia, um die Bundesrepublik Deutschland auf der Gedenkfeier für die Verbrechen an Herero, Nama und Damara zu vertreten. Zwischen 1904 und 1908 hatten kaiserliche Truppen in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika etwa 90 000 Menschen ermordet.

SZ.de: Frau Wieczorek-Zeul, 2004 sagten Sie in Namibia: "Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde." Haben Sie mit diesem Satz ein Tabu gebrochen?

Heidemarie Wieczorek-Zeul: Es war an der Zeit, hundert Jahre danach, diese Verbrechen so zu nennen, wie man sie benennen musste. Und vor allen Dingen, um Vergebung der Schuld zu bitten. Ich habe das in meiner eigenen Verantwortung und der meines Ministeriums gemacht. Doch auf dem Rückweg von der Veranstaltung in die Hauptstadt Windhoek wusste ich tatsächlich nicht, ob meine Zeit als Ministerin damit beendet sein würde. Ich hatte die Rede davor nicht mit dem Auswärtigen Amt oder mit dem Bundespräsidialamt abgestimmt. Wenn ich das versucht hätte, wäre das Ergebnis nicht so gewesen wie ich es wollte.

Ihr Satz hat an der offiziellen Sprachregelung nichts geändert. Die Bundesregierung vermeidet bis heute den Begriff Völkermord für die Verbrechen an Herero, Nama und Damara. Warum ist das so?

Mein Eindruck war, dass der Begriff vermieden wurde, weil man die Sorge vor sogenannten Reparationen hatte.

Sollte Deutschland Reparationen bezahlen? Die Bundesregierung verweist ja darauf, dass Namibia pro Kopf mehr deutsche Entwicklungshilfe erhält als jedes andere afrikanische Land.

Eine individuelle Wiedergutmachung oder Entschädigung ist heute natürlich nicht mehr möglich. Aber Deutschland sollte dafür sorgen, dass die Regionen, in denen die Nachfahren der Hereros, Nama und Damara leben, direkt unsere Unterstützung erhalten. Es geht um die konkrete Unterstützung und Hilfe für diejenigen, die besonders gelitten haben. Durch Zahlungen in einen allgemeinen Haushalt wird das nicht geleistet. Ich bin vor zwei Jahren, da war ich nur noch Bundestagsabgeordnete, in diese Gebiete gereist. Die Lebensbedingungen dort sind völlig inakzeptabel.

Sie haben in ihrer Rede 2004, genauso wie das Auswärtige Amt jetzt, davon gesprochen, dass Deutschland eine besondere historische und moralische Verantwortung gegenüber Namibia habe. Wird Deutschland dieser Verantwortung gerecht?

Soweit sich diese Verantwortung auf die politischen Beziehungen und die Entwicklungszusammenarbeit bezieht: ja. Doch die Verantwortung ist unvollständig. Dazu gehört auch die Anerkennung des Völkermords. Wir müssen deutsche Schuld und Verantwortung in Klarheit bekennen. Wir erwarten das von anderen, zum Beispiel von der Türkei, und müssen das auch selbst tun. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Nach dem klaren Bekenntnis zum Völkermord an den Armeniern durch den Bundestag, den Bundestagspräsidenten und den Bundespräsidenten ist dieser Schritt für die Bundesregierung unvermeidlich.

Was würde es bedeuten, wenn die Bundesregierung sich tatsächlich dazu entschließen sollte, von einem Völkermord zu sprechen?

Es wäre zum einen für die Nachfahren der Opfer wichtig. Als Akt der Anerkennung, als Akt des Respekts. Ich habe in Namibia ausführlich mit den Chiefs der Herero, Nama und Damara gesprochen. Es gab immer die gleiche Klage: Unsere Leiden haben euch nicht interessiert. Vielen Herero-Gruppen geht es nicht um finanziellen Ausgleich, es geht ihnen um Würde und Respekt. Wenn sich die Bundesregierung entschließen würde, wäre das also auch ein Signal gegenüber Afrika insgesamt.

Wird in Deutschland allgemein zu wenig über die deutsche Kolonialvergangenheit gesprochen?

Ja. Deswegen wäre ein öffentliches Bekenntnis der Bundesregierung, des Bundestags oder des Bundespräsidenten auch so wichtig. Es würde die Aufmerksamkeit deutlich erhöhen und dazu beitragen, auch diesen Teil der deutschen Geschichte im Bewusstsein der Bevölkerung wieder in Erinnerung zu rufen. Das sind wir den Opfern schuldig.

In deutschen Museen lagern noch heute zahlreiche Knochen von Herero-Nachfahren, die zu "rassenanatomischen Untersuchungen" nach Deutschland gebracht wurden.

Auch das müsste viel stärker ins allgemeine Bewusstsein rücken. 2011 war eine Delegation von Hereros in Deutschland, um Schädel und Gebeine ihrer Vorfahren zurückzuholen. Es gab dazu eine Veranstaltung in der Berliner Charité. Das Auswärtige Amt hat eine Staatsministerin dorthin geschickt, die überhaupt nicht zugehört hat und den Termin ohne Motivation und ohne Interesse als reine Pflichtübung angesehen hat. Das gab einen Eklat, das war eine Katastrophe. Die Dramatik der Situation hatte bis in die höchste Spitze des Auswärtigen Amts niemand verstanden. Manchmal wird unterschätzt, wie wichtig es ist, einfach zuzuhören.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: