Süddeutsche Zeitung

Deutsche Geschichte:"Die Reichsidee starb erst mit dem Ende des Nationalsozialismus"

Vor 200 Jahren wurde auf Druck Napoleons das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aufgelöst. Ein Interview über die zahlreichen Spuren, die dieser riesige Staatenbund in der BRD hinterlassen hat.

Bernd Oswald

Professor Hans-Ulrich Thamer lehrt Neuere und Neueste Geschichte in Münster.

sueddeutsche.de: Herr Thamer, in der Bundesrepublik ist der Eigenwille der Bundesländer recht stark ausgeprägt. Manche sagen, dass der deutsche Föderalismus in der Kleinstaaterei des Heiligen Römischen Reiches wurzelt. Stimmt das?

Hans-Ulrich Thamer: Der Föderalismus des 20. Jahrhunderts hat in dem bunten Nebeneinander ganz unterschiedlicher politischer Einheiten des Heiligen Römischen Reiches natürlich eine Wurzel, kann aber nicht nur damit erklärt werden.

sueddeutsche.de: Welche Wurzel ist das?

Thamer: Die Territorien und Städte wehrten sich gegen den zentralistischen Staatstypus, wie er etwa während der französischen Revolution entstand. Die Kleinstaaterei , d.h. das polyzentrische Machtgefüge bot für die Bevölkerung ein Stück Eigenständigkeit und Freiheit, die sie verteidigen wollten. Letztendlich mündete das dann in den Föderalismus.

sueddeutsche.de: Heute sind Katholizismus und Protestantismus beinahe gleich stark vertreten. Wie konnte es dazu kommen?

Thamer: Dieses Phänomen ist allgemein durch die Konfessionalisierung der Gesellschaft und durch die besondere Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches bestimmt worden. Etwa durch die Garantien des Westfälischen Friedens. Dabei wurde der Glaubenskonflikt durch besondere Verfahrensregeln stillgestellt.

sueddeutsche.de: Zum Beispiel?

Thamer: Die Regelung cuius regio, eius religio (Anm. d. Red.: lateinisch für: Wessen Reich, dessen Religion) wurde modifiziert: Die Landeskinder mussten nicht mehr jedes Mal die Konfession wechseln, wenn das der Landesherr getan hat. So entstand eine Besitzstandsgarantie. Umgekehrt beharrten die Territorien auf der Rechtgläubigkeit ihrer Untertanen, weil sie darin die Voraussetzung für die innere Geschlossenheit des politischen Gemeinwesens sahen.

Darum wurden Pfarrer und Beamte eidlich auf die Landeskonfession verpflichtet. Das hat dazu geführt, dass wir im 19. und 20. Jahrhundert mit der politischen Mobilisierung und Parteibildung eine konfessionell geprägte politische Landkarte bekommen haben, die teilweise bis heute fortbesteht.

sueddeutsche.de: Warum war ausgerechnet das Heilige Römische Reich Schauplatz der Glaubensspaltung?

Thamer: Die Reformation als theologischer Vorgang ist auch ein europäisches Phänomen. Dass sie ausgerechnet im Heiligen Römischen Reich eine solche Stoßkraft entwickeln konnte, hatte mit bestimmten politischen Verhältnissen und mit besonderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen zu tun.

sueddeutsche.de: Welchen?

Thamer: Es kam gerade in Süddeutschland zu einer deutlichen Erosion der ständischen Ordnung, weil die sozialen Gruppen, die vom Bauern bis zum kleinen Grundherren im landwirtschaftlichen Bereich tätig waren, von einer agrarischen Depression geschwächt wurden. Umgekehrt entstanden mit dem Aufstieg des städtischen Bürgertums und des Frühkapitalismus neue Gravitationszentren.

Hinzu kam, dass in diesen Umbruchzeiten die Reichsfürsten ihre Ordnungsmacht ausbauen konnten. Die Verdichtung der Konflikte zeigte sich in dem Ausbruch des Bauernkrieges. Der wiederum war eng mit Zielen und Argumenten der Reformation verbunden.

Die andere Ursache: Manche Territorialherren und Städte benutzten die Einführung des Protestantismus, um sich unabhängiger zu machen und ihren eigenen Herrschaftsbereich zu vereinheitlichen und zu konsolidieren - und sich nebenbei noch der Kirchengüter zu bemächtigen.

sueddeutsche.de: In wenigen Staaten gibt es so viele Gesetze und Vorschriften wie in Deutschland. Hat auch das seinen Ursprung im Alten Reich?

Thamer: Die Verrechtlichung war erforderlich, um - etwa im Westfälischen Frieden - die Einheit des Reiches zu erhalten und gleichzeitig Konflikte friedlich lösen zu können. Gleichzeitig diente sie dazu, das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan neu zu definieren. Das Gewaltmonopol wurde schrittweise auf den sich ausbildenden Staat verlagert, um so den inneren Frieden zu sichern.

Dabei wurde auch der Staat ausgebaut, der schrittweise - und das bis heute- in die gesellschaftlichen Beziehungen und Bereiche eingreift; der den Untertan in die Pflicht nahm. So entstand der Finanz-, Militär- und Wirtschaftsstaat, der immer neue Steuerforderungen stellt, zum Militärdienst zwingt und die wirtschaftliche Produktion bzw. die Arbeit zu regeln versucht. Die neuen Gesetze gaben dem einzelnen Bürger aber auch eine gewisse Rechtssicherheit: Er konnte klagen, etwa beim Reichskammergericht.

sueddeutsche.de: Deutschland hat auch ein reichhaltiges kulturelles Erbe: Dichter, Architekten und Musiker wurden jeweils von Fürsten und Herzögen gefördert. War das etwas typisch deutsches?

Thamer: Natürlich haben sich die Höfe - und davon gab es sehr viele - als Träger und Förderer von Kunst und Kultur verstanden und sich damit auch eine Legitimation verschafft. Im 19. Jahrhundert ist das als Stärke der deutschen Entwicklung gesehen worden.

Goethe hat in den 1820er Jahren im Gespräch mit Eckermann darauf verwiesen, dass die große Breite und Vielfalt der Volkskultur, wie er das nannte, mit dem Innovations- und Kunstförderungswillen der Fürsten zu tun habe. Darin sah er etwas sehr Positives.

sueddeutsche.de: Inwieweit kamen Kunst und Kultur der Allgemeinheit zu Gute?

Thamer: Sie können das an fürstlichen Sammlungen sehen, die seit dem späten 18. Jahrhundert für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Einige Landesherren haben dafür eigene Museen gebaut, wie der hessische Landgraf in Kassel, der mit dem Friederizianum - dort wo heute die documenta stattfindet - das erste öffentliche Museum errichtete.

Da kam man kostenlos hinein und bekam auch Führungen. Natürlich galt das nur für die schmale Gruppe der Gebildeten. Da gab es keine langen Schlangen, sondern einen kleinen Kreis von Kennern.

sueddeutsche.de: Hat das Heilige Römische Reich die Entwicklung der Demokratie in Deutschland eher behindert oder eher befördert?

Thamer: In die Reichsidee können sie alles hineindenken. Auch ein demokratisches Reich. Das tut aber nur eine Minderheit. Die Reichsidee verbindet sich in der Regel mit relativ starken anti-demokratischen Tendenzen und Bewegungen: Im Wilhelminischen Reich wird die Reichsidee imperialistisch ausgedeutet. Noch schlimmer ist es in der Weimarer Republik: Für die zahlreichen Antidemokraten war das Reich ein nebulöse Idee, die keiner richtig definieren konnte, die aber alle im Munde führten, um ein Gegenmodell gegen die verhasste demokratische Republik zu haben.

Erst mit dem Untergang des Nationalsozialismus erstarb auch die Reichsidee, die bis dahin der Gründung einer pluralistischen parlamentarischen Demokratie nach westlichem Muster im Wege stand.

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