Deutsche Europapolitik:Merkel will die Emanzipation von den USA - tut aber viel zu wenig dafür

Bundeskanzlerin Merkel auf dem EU-Gipfel 2017 in Brüssel

Angela Merkel, hier auf einem EU-Gipfel 2017 in Brüssel, kämpft in Sachen Europäischer Union mit einer Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

(Foto: AFP)

Angesichts eines irrlichternden US-Präsidenten fordert die Kanzlerin von den Europäern, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Doch die halten weiter an ihrer Kleinstaaterei fest.

Kommentar von Cerstin Gammelin

War da was? Mit Donald Trumps Amerika? Demnächst wird eine US-Trägerrakete ein deutsches Satellitensystem ins All befördern. Berlin hat die Amerikaner damit beauftragt, obwohl die Europäer ein eigenes Weltraumprogramm haben, um selbst das All zu erobern. Zu Recht muss sich die Bundesregierung kritisieren lassen, dass sie lieber billiger in den USA einkauft, als in das europäische Projekt zu investieren. Und wie passt das zusammen mit dem Weckruf der Kanzlerin vom Frühjahr vorigen Jahres, als sie forderte: "Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen"?

Es braucht nicht viel Fantasie, um die Lücke zu erkennen, die sich auftut in der deutschen Europapolitik, nicht nur beim Weltraumprogramm. Es ist die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Dabei ist es völlig richtig, dass Angela Merkel die Bundesbürger - und als Regierungschefin der größten europäischen Volkswirtschaft gewissermaßen alle Europäer - dazu aufgerufen hat, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Wer wollte nicht selbst über sein Leben bestimmen, statt sich von Fremden bevormunden zu lassen. Nicht zuletzt war es der Jubel, der Merkel damals bei ihrem Auftritt in einem Bierzelt in München bestätigte.

Eine europäische Suchmaschine? Fehlanzeige

Und es gibt bis heute drängende Gründe für eine Emanzipation Europas. Donald Trump hat demonstriert, dass er sich nicht um westliche Verbündete schert und alles zerschlägt, solange es ihm zum Vorteil gereicht, wirtschaftlich wie politisch. China wächst rasend schnell.

Nur wenn die europäischen Staaten ihre Kräfte zu einer Gemeinschaft bündeln, können sie die Wucht entwickeln, die in einem Binnenmarkt mit 500 Millionen Verbrauchern angelegt ist, und die Interessen der Bürger vertreten. Doch in dem Spiegel, den Trump dem alten Kontinent vorhält, ist noch zu wenig Gemeinschaft zu sehen und zu viel Kleinstaaterei.

Das zeigt sich in vielem. Europa hat den Anspruch, die digitalen US-Konzerne zu bändigen, ja sogar eigene Unternehmen zu entwickeln. Doch wer jenseits der deutschen Grenzen im Internet öffentlich-rechtliche Sender ansehen möchte, prallt auf ein Stoppschild. Eine europäische Suchmaschine? Fehlanzeige. Und wer glaubt, Europa gehe gegen Steueroasen vor, stößt in Österreich, den Niederlanden, Irland und Luxemburg auf unwiderstehliche Steuersparmodelle.

Deutschland steht im Ruf des beliebtesten Geldwäschemarktes Europas. Weil Steuerpolitik im realen Leben national betrieben wird, kommt man in der EU bei gemeinsamen Arbeitnehmerrechten nicht weiter. Junge Deutsche, die Pilot werden und ihren ersten Vertrag bekommen, müssen mit ganz unterschiedlichen Arbeitsbedingungen zurechtkommen, je nachdem, wer sie beschäftigt. Sind sie bei Ryanair, fallen sie unter irisches Recht, Streikverbot inklusive. Sind sie bei Germanwings und nach österreichischem Recht beschäftigt, werden sie anders besteuert als Lufthansa-Piloten mit deutschen Verträgen.

Soll man Merkels Weckruf vergessen? Im Gegenteil

Man darf davon ausgehen, dass Merkel weiß, dass sie ein Versprechen gegeben hat, das schwer einzulösen ist - wenn überhaupt. Die Krux liegt ja gerade darin, dass nicht einmal der europäische Binnenmarkt, den die Europäer oft als Beispiel für ihre Stärke preisen, wirklich ohne Grenzen ist.

Unter diesen Umständen erscheint es sehr ambitioniert, politische Großprojekte anzugehen; etwa den gemeinsamen Schutz der Außengrenzen, oder ein gemeinsames Asylrecht. Bis heute zeigen der unversöhnliche Streit um die Vollendung der Währungsunion und neuerdings auch der mühsam verborgene deutsch-französische Zwist im Handelskonflikt mit den USA, wie schwierig es ist, die Interessen auszutarieren.

Die EU könnte ihre Anteile beim Internationalen Währungsfonds zusammenlegen

Soll man deshalb Merkels Weckruf vergessen? Im Gegenteil. Er fördert zutage, dass Europa noch viel anzupacken hat, um als Einheit weltweit respektiert zu werden. Und der Weckruf macht klar, dass der Handelskonflikt oder die steuerliche Kleinstaaterei Symptome eines Problems sind, das verhindert, dass die Europäer ihr Schicksal wirklich in die eigenen Hände nehmen.

Das Problem ist die mangelnde Kooperationsbereitschaft, hervorgerufen durch das latente Misstrauen in den Hauptstädten, man könnte übervorteilt werden. Es regieren Politiker, die sich nach außen europafreundlich geben, aber nach innen so agieren, dass ihre Vorurteile gegenüber einem geeint handelnden Europa sichtbar werden. Wer so widersprüchlich auftritt, erzeugt nicht Zuversicht, sondern Misstrauen.

Die Bundesregierung tut gut daran, das Misstrauen zu überwinden. Warum führt sie die Europäer nicht an bei einem symbolischen Akt, der zeigt, was möglich ist, wenn sie zusammenstehen? Legten sie etwa ihre Anteile beim Internationalen Währungsfonds zusammen, wären sie dessen größter Eigner - und nicht mehr die USA. Sie könnten den Fonds dann nach Europa verlegen, ihn so strategisch nutzen wie jetzt die USA und darauf verzichten, sich mühsam einen eigenen aufzubauen.

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