Süddeutsche Zeitung

Deutsche Einheit:Zwischen Schlechtrednern und Schönfärbern

  • Die Bewertung, was die Deutsche Einheit wirklich gebracht hat, kann positiv wie negativ ausfallen.
  • Es gibt sowohl Schön- als auch Schlechtredner.
  • Am interessantesten ist aber die Gruppe dazwischen. Hier gibt es die pragmatische Ansicht, dass doch ein Deutschland möglich sein müsse, das seine Zusammengehörigkeit schätzt, ohne fortbestehende Unterschiede wegreden zu müssen.

Von Cornelius Pollmer, Dresden

Noch vor dem offiziellen Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit erschien in diesem Frühjahr ein Buch, das sich ebenso als Bestandsaufnahme lesen lässt. Der Autor Matthias Krauß legte in seinem Bericht dar, "was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat", und er stellte ihm ein Zitat von Erich Kästner voran, das in seiner leisen Melancholie die Lage des Landes womöglich besser fasst, als viele Hundert regierungsoffizielle Seiten mit Prozentzahlen und Entwicklungsdaten dies vermöchten. Dieses Zitat geht so: "Die große Freiheit ist es nicht geworden, die kleine Freiheit - vielleicht!"

Beiden Berichten liegen naturgemäß dieselben Daten zugrunde, unterschiedlich aber kann und darf deren Interpretation ausfallen. Es lässt sich betonen, dass die Wirtschaftskraft des Ostens von 43 Prozent des West-Niveaus im Jahr 1990 auf 75 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen ist - oder eben, dass es gegenwärtig keinen Anlass zu der Hoffnung gibt, der noch immer bestehende Abstand ließe sich in absehbarer Zeit irgendwie überwinden.

Es lässt sich betonen, dass im Jahr 2017 die Wanderungsbilanz der ostdeutschen Flächenländer gegenüber dem Westen erstmals positiv war - oder eben, dass vom Fortzug von Millionen oft gut ausgebildeter und junger Menschen nach der Wende der Westen noch immer profitiert und dass der Osten noch lange strukturell darunter leiden wird, ökonomisch und im Übrigen auch auf vielen zivilgesellschaftlichen Ebenen.

Es lässt sich betonen, dass mit der Ansiedlung des Fernstraßenbundesamts oder Agenturen wie jener für Disruptive Innovationen der Osten nun endlich von einer Dezentralisierung der Bundesverwaltung profitiere - oder eben, dass bis heute das Umweltbundesamt in Dessau-Roßlau die einzige große Behörde mit Hauptsitz im Osten und dort übrigens so gut angebunden ist, dass die meisten ihrer Mitarbeiter von und nach Berlin pendeln.

Noch uneindeutiger, aber nicht unbedingt widersprüchlich wird es, betrachtet man die demoskopischen Berichte zum Stand der Einheit. Nur ein Beispiel: Jeweils mehr als die Hälfte der Befragten sagen, sie persönlich würden sich als Gewinner der Wiedervereinigung bezeichnen. Und sie stimmen, zweitens, zu mehr als 50 Prozent der Aussage zu, sich wie Bürger zweiter Klasse zu fühlen.

Biografische Brüche und reale Verluste - manche interessiert das nicht

Was fängt man nun an, mit solchen Messwerten der Sachen und des Gefühls? Je nach Laune so einiges. Es gibt zwischen tendenziellen Schön- und Schlechtrednern inzwischen eine stattliche Gruppe von Meinungsinhabern, denen die Einheitseuphorie ähnlich fremd ist wie das Jammern und die nüchtern festhält, der Osten werde weiter nach Kräften aufholen, ohne aber je einzuholen. Diese drei Gruppen lohnen eine genauere Betrachtung.

Die Schlechtredner gibt es im Osten wie im Westen. Zu ihnen gehören im Osten die harten Ostalgiker genauso wie jene, die das gegenwärtige System (Chiffre: Berlin) mehr ablehnen, als sie das alte wirklich vermissen würden.

Zu den Schlechtrednern im Westen gehören wiederum vor allem jene, für die die DDR ganz eindeutig ein Unrechtsstaat war (stimmt) und sonst nichts (stimmt nicht). Die sich nicht ernsthaft für biografische Brüche und reale Verluste im Osten interessieren - sondern vor allem das viele Geld sehen, das dorthin transferiert worden ist, und die sich nun wünschen, die da drüben mögen endlich normal wählen und ansonsten in Dankbarkeit verstummen, denn wer ein großes Eis bekommen hat, der soll dann bitte auch aufhören zu quengeln.

Die Schönredner Ost haben von der Einheit persönlich profitiert und schließen von sich lieber aufs Ganze, als sich mit Verwerfungen auseinanderzusetzen, die dieselbe Einheit für andere bedeutete, teilweise schon in der eigenen Familie. Die Schönredner Ost unterscheiden sich gar nicht so sehr von den Schlechtrednern West, und was ihnen an Ignoranz fehlt, das machen sie mit naivem Pathos locker wett.

Am interessantesten ist in Ost wie West die Gruppe dazwischen, und das geht nur los damit, dass ein so komplexes politisches und soziales Ereignis wie der Beitritt der DDR zur BRD natürlich nicht mit einem schlichten Plus oder Minus zu fassen sein kann. Es gibt in dieser Gruppe ehrliche Dankbarkeit für die umfangreichen Strukturhilfen des Westens - und gleichzeitig eine manchmal auch zornige Trauer über das Ausbluten vieler Regionen in den Jahren nach 1989.

Es gibt in größeren Teilen dieser Gruppe die Bereitschaft, zum Beispiel über Wahlen die anhaltende Eigensinnigkeit des Ostens herauszuarbeiten - und gleichzeitig eine nachgeschaltete Staatsräson, welcher die Überzeugung zugrunde liegt, dass auf Provokation zuweilen auch Mäßigung folgen muss.

Es gibt in dieser Gruppe den berechtigten Anspruch, nicht alle Erfahrungswerte und Errungenschaften des Ostens nur deshalb zu missachten, weil die DDR ein Staat des Unrechts war. Diesem Anspruch wohnt die Ahnung inne, dass es nicht bedingungslos gut wäre, sollte sich ein Satz des Schriftstellers Thomas Brussig bewahrheiten, der mal gefragt wurde, was von der DDR bleiben werde. Brussig sagte: "Das einzige, was von der DDR bleiben wird, ist ihr Ende."

Es gibt in dieser Gruppe schließlich die pragmatische Ansicht, dass doch ein Deutschland möglich sein müsse, das seine Zusammengehörigkeit schätzt, ohne fortbestehende Unterschiede wegreden oder verschweigen zu müssen.

Von dieser pragmatischen Sicht zwingend zu unterscheiden ist jenes bequeme Wunschdenken, demzufolge der Osten, der Westen und die Einheit doch längst kein Thema mehr seien. Sehr vieles spricht dagegen, unter anderem die Zeit. Gewiss scheint es im Schatten gegenwärtiger Großthemenlagen manchmal kleinlich oder anachronistisch, die deutsche Teilung in gegenwärtige Diskurse zu verlängern.

Ein besserer Schutz der Umwelt, globale Fluchtbewegungen und Kriege - was sollte es nützen, angesichts solcher Herausforderungen weiter Stuhlkreise zu bilden, um über den Osten und den Westen zu sprechen? Die Aufmerksamkeitskonkurrenz ist enorm groß geworden und dies mit guten Gründen.

Der Osten wird sich dennoch weiter bemerkbar machen. Er hat dies über Wahlen bereits getan. Und die Frage muss vorläufig offen bleiben, wie er das tut, wenn die Konjunktur sich weiter deutlich abschwächt, wenn im Westen sich Wohlstands- und damit Erbmasse weiter und zunehmend konzentriert, und so fort.

Merkel: "Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte"

Vor gerade diesem Hintergrund ist beachtenswert, was außerhalb von Jahresberichten und Staatsaktredemanuskripten im Osten 30 Jahre nach dem Mauerfall passiert, im Kleineren, hier und da. Es gibt da etwa das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig, das seine Dauerausstellung um die Zeit nach '89 erweitert hat und ostdeutschen Transformationsleistungen eine Bühne gibt.

Da gibt es die sogenannte "Dritte Generation Ost", die eine Verständigung jener Ostdeutschen organisiert, die zur Wende sehr jung oder sogar noch Kleinkinder waren. Da gibt es auch eine sich wieder politisierende Gesellschaft im Osten, die ja nach wie vor nicht geschlossen rechtsextrem wählt, sondern in der es auch viele bewundernswerte Initiativen und Akteure gibt, die unter teils widrigen Bedingungen versuchen, den und damit ihren Laden zusammenzuhalten.

In einem Interview mit der Zeit zu Beginn dieses Jahres sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie tue sich schwer "zu sagen, das Land sei so gespalten wie nie zuvor. Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte". Dieselbe Angela Merkel sagte einige Jahre zuvor, die Wiedervereinigung des Landes sei "gelingbar und gelungen".

Wie sehr das Land versöhnt oder gespalten ist, wie weit die Einheit schon gelungen oder hoffentlich noch gelingbar, bleibt letztlich eine Frage, deren Antwort niemand von oben oder mit Statistiken dekretieren kann.

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SZ vom 02.10.2019/gal
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