Deutsche Einheit:Eine Zumutung mit vorzeigbarer Bilanz

Deutsche Einheit: Norbert F. Pötzl: Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen. Kursbuch.edition, Hamburg 2019. 255 Seiten, 22 Euro. (Erscheint am Dienstag, 10. September.)

Norbert F. Pötzl: Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen. Kursbuch.edition, Hamburg 2019. 255 Seiten, 22 Euro. (Erscheint am Dienstag, 10. September.)

Norbert F. Pötzl erzählt die Geschichte der Treuhand. Er rät bei aller Wut vieler Ostdeutscher: auf die Fakten schauen.

Von Ralf Husemann

Petra Köpping (früher SED, heute SPD) wird keine Freude an diesem Buch haben. Der Autor geht mit der sächsischen Ministerin gnadenlos ins Gericht. Norbert F. Pötzl, langjähriger Spiegel-Redakteur, schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch "Der Treuhand-Komplex", Köppings 2018 erschienene "Streitschrift für den Osten" (dort ein Bestseller) mit dem provokanten Titel "Integriert doch erst mal uns!" erweise sich "von vorn bis hinten als falsch". Viele Behauptungen - vor allem im Zusammenhang mit der Schließung einer ostsächsischen Elektrokeramikfabrik - könne sie nicht belegen. Köpping bewirbt sich derzeit (was Pötzl noch nicht wissen konnte) gemeinsam mit dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius für den Vorsitz der SPD. Sie behauptet, wie viele andere auch, dass die Treuhand im Interesse westdeutscher Unternehmen "potenzielle Ostkonkurrenz beiseitegeräumt" habe. Die Anstalt sei ein "Sinnbild des knallharten, über Nacht hereingebrochenen Turbokapitalismus". Den profunden DDR-Kenner Pötzl, der Biografien über Erich Honecker und den schillernden DDR-Anwalt Wolfgang Vogel geschrieben hat, regt besonders auf, dass Köpping, "nicht anders als die AfD, den Leuten populistisch nach dem Mund" rede. "Statt zu versöhnen, spaltet sie das Land." Dieser Vorwurf trifft ausgerechnet eine Politikerin, die im sächsischen Kabinett nicht nur für Gleichstellung, sondern auch für "Integration" zuständig ist.

Aber vielleicht wird in diesem Streit jenseits der Fakten noch ein grundsätzliches Dilemma deutlich: Ist für die meisten Westdeutschen etwa eine Vollbeschäftigung von 100 Prozent (und diese gab es ja fast in der DDR) ein ökonomischer Wahnsinn, der Ineffektivität und Ruin aller Marktchancen bedeute, so ist das für viele ehemalige DDR-Bürger eine soziale Großtat. Diesen extrem unterschiedlichen Blick auf Wirtschaft und Staat beleuchtet Pötzl leider nicht, sonst lässt er aber nichts aus: Erfolgsgeschichten, Pleiten und Betrügereien.

Das äußerst emotionale Thema "Treuhandanstalt" ist bis heute der schwerste Bremsklotz für Fortschritte beim Überwinden der nach wie vor vorhandenen Gräben zwischen Ost und West. Die DDR-Wirtschaft sei zwischen 1990 und 1994 "ausgeplündert", "plattgemacht" oder "kolonialisiert" worden, so und schlimmer ist der Tenor im Osten. Dem stimmen sogar wohlwollende Wessis wie der CDU-Politiker Johannes Ludewig zu, der in diesem Sommer zugab: "Ich habe mich geschämt! Wie ist man mit den Ostdeutschen umgegangen ..." Ein bemerkenswertes Bekenntnis, war Ludewig doch just in der Umbruchzeit von 1991 an im Bundeskanzleramt Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Finanzpolitik und für die "Koordination der neuen Bundesländer" zuständig. Birgit Breuel, die zweite Treuhand-Chefin (nach Detlev Rohwedders Ermordung am 1. April 1991) räumt ein, "den Menschen sehr viel zugemutet" zu haben. Trotz mancher Fehler sei ihre Arbeit aber "grundsätzlich richtig" gewesen.

Von wegen "plattgemacht": Liquidiert wurden schließlich 3718 von 12 000 Betrieben

Der gebürtige Schwabe Pötzl (Jahrgang 1948) konstatiert bei den Ostdeutschen ein "kollektives Gefühl der Kränkung", stimmt aber zugleich Richard Schröder (1990 SPD-Fraktionschef in der DDR-Volkskammer) zu, der beklagt, dass sich beim Thema Treuhand "Emotionen ohne allzu große Rücksicht auf die Tatsachen austoben können".

In seiner äußerst faktenreichen Darstellung stellt Pötzl fest, dass das Ergebnis der Umwandlung einer "Gefängniswirtschaft" zu "Freiheit und Markt" (so der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi) nach fast 30 Jahren so schlecht auch nicht aussieht: Die Tariflöhne haben 98 Prozent des Westniveaus erreicht, die tatsächlich gezahlten immerhin 82 Prozent. Die Arbeitslosigkeit, 1999 im Osten bei mehr als 17 Prozent, liegt jetzt nur mehr bei knapp über sechs Prozent. Die Differenz zum Westen verringerte sich damit von zehn auf weniger als zwei Prozentpunkte. In Bremen (mit zehn Prozent deutscher Spitzenreiter) sind inzwischen fast doppelt so viele Menschen arbeitslos wie in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg. Die Renten sind im Schnitt in den Ländern der ehemaligen DDR deutlich höher als im Westen. 2018 erhielten ostdeutsche Männer 1198, westdeutsche 1095 Euro, ostdeutsche Frauen 928, westdeutsche Frauen lediglich 622 Euro.

Und was hat die Treuhandanstalt zustande gebracht? Als die im Juli 1990 ihre Arbeit aufnahm, arbeiteten in ihren 8500 bis dahin "volkseigenen" Betrieben (VEB) 3,5 Millionen Menschen, die Zahl der Arbeitslosen lag bei 224 000. Anfang 1991 gab es nur noch 2,9 Millionen Beschäftigte. Das bedeutete aber nicht, dass die Differenz für alle Arbeitslosigkeit bedeutete. Hunderttausende hatten neue Stellen gefunden, waren inzwischen in Rente oder Vorruhestand, nach Westdeutschland umgesiedelt oder pendelten dorthin. Und manche hatten sich selbständig gemacht. Überdies war weniger als die Hälfte der Werktätigen in Treuhandbetrieben beschäftigt. Die Treuhand wird aber meist allein für die angeschwollene Arbeitslosigkeit in Haftung genommen. Pötzl beruft sich auf eine Analyse von Arbeitsmarktforschern, die feststellten, dass ein Viertel der ostdeutschen Arbeitnehmer noch fünf Jahre nach der Wende "ununterbrochen im selben Betrieb tätig geblieben" seien.

Die Treuhand-Bilanz: Von den schließlich mehr als 12 000 Betrieben wurden 6546 privatisiert, davon 3000 als "Management-Buy-out", der Unternehmensübernahme durch die Manager, 1588 an Vorbesitzer zurückgegeben, 310 an kommunale Träger. Liquidiert wurden 3718 Betriebe oder 30,6 Prozent. Überraschung: Das entsprach in etwa auch den Erwartungen der letzten beiden DDR-Regierungen Modrow und de Maizière. Die hielten 27 bis 39 Prozent für konkursreif.

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