Süddeutsche Zeitung

Deutsche Bahn, ICE und die Hitze:Bei 32 Grad streikt die Klimaanlage

Bullenhitze in den Waggons, kollabierende Passagiere und überforderte Zugbegleiter: Der Hochsommer stellt die Deutsche Bahn auf die Probe. Interne Dokumente enthüllen, dass überfällige Reparaturen nicht gemacht wurden.

M. Bauchmüller und M. Kolb

Das bahninterne Schreiben "P.THB4 39/2010" vom 12. Juli 2010 ist ein gutes Beispiel für Behördendeutsch. Unter dem Titel "Klimaanlagen in den Zügen des Fernverkehrs: Ausfällen vorbeugen, Störungen beseitigen und umsichtig handeln" gibt das zweiseitige Papier Anweisungen an die Zugchefs der ICEs.

Anlass für das Papier, das die Bild-Zeitung ins Internet gestellt hat, ist jedem Deutschen bekannt: Es ist die Affenhitze. "Aufgrund der momentan sehr hohen Außentemperaturen müssen wir in den kommenden Tagen weiterhin mit Ausfällen von Klimaanlagen rechnen." Die Gültigkeit dieser Weisung: "Ab sofort bis auf weiteres."

Die schockierenden Bilder vom vergangenen Wochenende, als Schüler und andere Reisende in ICEs mit defekten Klimaanlagen festsaßen und Dutzende Menschen kollabierten, sind noch in bester Erinnerung. Am Montag hatte das Technische Hilfswerk in Hannover Tausende überhitzte und im Verkehrschaos gestrandete Reisende mit Wasser versorgen müssen. In insgesamt 40 Zügen seit Beginn der Hitzewelle gab es derartige Pannen.

Nun sorgt eine Nachricht für Verwunderung und den nächsten Schock: Nach übereinstimmenden Berichten mehrerer Zeitungen sind die Klimaanlagen der ICEs nur für eine maximale Außentemperatur von 32 Grad ausgerichtet.

Die Hannoversche Allgemeine Zeitung hatte den Präsidenten des Eisenbahnbundesamtes, Gerald Hörster, mit deutlichen Worten zitiert. Dieser warnt in einem Schreiben an den Bahnvorstand vom 14. Juli, das auch sueddeutsche.de vorliegt, vor einer Verletzung seiner gesetzlichen "Sicherheitsverpflichtung". Wörtlich schreibt Hörster: "Die Vorfälle geben hinreichenden Anlass zu der Annahme, dass nicht gewährleistet werden konnte, dass die Risiken für die Fahrgäste auf ein verantwortbares und rechtlich zulässiges Maß beschränkt geblieben sind."

Hörster geht in dem Brief auf Auskünfte des Bahnvorstands ein, die er auf eine Anfrage vom 12. Juli bekam. Danach sei ein Abkühlen bei höheren Temperaturen als 32 Grad nicht gewährleistet - und "durch unglückliche Umstände" habe überdies "die Luftzufuhr versagt". Auch die Tatsache, dass "eine Hotline mit wagentechnischer Sachkunde zur Beratung der Zugbegleiter" eingerichtet worden sei, überzeugt Hörster nicht. Das Eisenbahnbundesamt, die zuständige Aufsichtsbehörde, hat bereits Ermittlungen wegen der Vorfälle eingeleitet - und Hörster kündigt an, "der vorstehenden Thematik im Rahmen der Eisenbahnaufsicht ein verstärktes Augenmerk" zu schenken .

Die Bahn sucht immer noch fieberhaft nach der Fehlerquelle. Inzwischen gibt es auch Testfahrten mit Experten von Siemens und Liebherr. Ersten Erkenntnissen zufolge könnten Fehler in Schaltungen der Klimanalagen die Ursache für die Pannen sein.

Auch die Welt berichtet, dass die Klimaanlagen des ICE 1 sowie des ICE 2 nur bis 35 Grad Temperatur ausgelegt seien. Dies entspreche der gängigen Norm 553 des internationalen Eisenbahnverbands UIC, welche die Lüftung, Heizung und Klimatisierung in Reisezugwagen regelt. Offenbar gebe es einen Toleranzbereich, der bis zu 40 Grad reichen soll. Fahrgäste berichteten aber von Temperaturen jenseits der 50-Grad-Marke.

SPD-Fraktionsvize fordert Untersuchung

Die Opposition reagiert erhitzt: SPD-Fraktionsvize Florian Pronold fordert einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. "Wir wollen wissen, ob die Bahn zu Lasten der Sicherheit gespart hat, welchen Zusammenhang es zu den Hitzeproblemen gibt und wer dafür die Verantwortung trägt," tönt der Niederbayer in der Bild-Zeitung.

Das Verkehrsministerium gibt zumindest zu, dass bei älteren Zügen der ICE-Flotte bereits seit einiger Zeit technische Probleme bekannt seien. "Wir kennen die Themen mit den ICE 1 und ICE 2 schon seit etwas längerem", sagte Staatssekretär Enak Ferlemann im RBB-Inforadio. Dies betreffe oftmals die ganze Bordtechnik, die häufig ausfalle, so der CDU-Politiker.

Auch bei Pro Bahn ist man nicht völlig überrascht. Es sei zwar damit zu rechnen, dass bei hohen Temperaturen Bauteile der Elektronik ausfallen, erklärt Karl-Peter Neumann, der Vorsitzende des Fahrgastverbands Pro Bahn, im Gespräch mit sueddeutsche.de. "Dass es so massiv kommt, ist allerdings überraschend. Es lässt auf Mängel in der Wartung schließen", schlussfolgert Neumann.

Er erläutert den Hintergrund: Die Züge der zweiten ICE-Reihe sollten bereits 2009 generalüberholt werden, allerdings wurde dieser Schritt auf Ende dieses Jahres verschoben. "Es ist nachvollziehbar, dass man kleinere Reparaturen nicht kurz vor einer Generalüberholung macht", sagt Neumann - in der Kombination mit der Hitzewelle sei dieses Vorgehen schiefgegangen.

"Bei einer Außentemperatur von 35 Grad kann man eine Innentemperatur von 26 Grad erwarten. Steigt die Außentemperatur, dann ist auch ein Anstieg der Innentemperatur möglich, aber ein Ausfall der Klimaanlage? Das deutet auf Wartungsprobleme hin", vermutet auch Thomas Terhorst vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI).

Er betont, dass die Verantwortung für die Gesundheit der Passagiere beim Zugbetreiber liege, unabhängig von einer UIC-Norm. "Die Maximaltemperatur im Innenraum darf 28 Grad nicht überschreiten, egal wie heiß es draußen wird", sagte Terhorst sueddeutsche.de.

Derzeit werden die Werkstätten zur Untersuchung von ICE-Achsen benötigt - nach einem Achsbruch im Kölner Hauptbahnhof hatten Experten bei mehreren Fahrzeugen feine Risse festgestellt, die teils auf ermüdetes Material, teils auf schlechte Wartung zurückgehen. Es wird noch bis 2013 dauern, bis alle Achsen ausgetauscht sind.

Laut Neumann werden deshalb Klimaanlagen und Toiletten nicht so schnell mehr repariert. Der Pro-Bahn-Chef sagte sueddeutsche.de: "Wir hören von Fällen, bei denen Züge aus dem Betriebswerk nach Reparaturen mit defekten Toiletten ausfahren, weil zu wenig Zeit für die Reparatur bleibt."

Drastischer hatte sich bereits Anfang der Woche der Verkehrsexperte der Grünen, Winfried Hermann, in einem Interview mit tagesschau.de geäußert: "Es ist unter Insidern längst bekannt, dass die ICE-2-Züge inzwischen technisch anfällig sind, dass man bei der Wartung gespart hat, dass man Arbeiten aus Kostengründen hinausgezögert hat." So seien mangelhafte Klimaanlagen eben nicht ausgetauscht worden, weshalb man jetzt auf einen "doch vorhersehbaren Krisenfall" nicht vorbereitet gewesen sei.

Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) verlangt unterdessen von der Deutschen Bahn wegen der massiven Technikprobleme einen Verzicht auf Preiserhöhungen in diesem Jahr. Dies sei das Mindeste, was die Fahrgäste erwarten könnten, teilte der VCD mit. Der Vorsitzende Michael Gehrmann kritisierte, noch sei von der "Kunden- und Qualitätsoffensive" nichts zu spüren, die nach den Problemen im Winter angekündigt wurde.

Bahn: Keiner rechnete mit 35 Grad

Für die Deutsche Bahn meldet sich Georg Brunnhuber zu Wort: Der 62-Jährige saß 19 Jahre für die CDU im Bundestag und war bis März 2010 im Bahn-Aufsichtsrat. Seit Juli kümmert er sich als Sonderbeauftragter von Bahnchef Rüdiger Grube um die politische Kommunikation. Brunnhuber gibt im Gespräch mit stern.de zu: "Zum Zeitpunkt der Planung dieser ICEs ist niemand davon ausgegangen, dass wir einmal Temperaturen von mehr als 35 Grad in Deutschland haben würden."

Per Pressemeldung verkündet die Bahn ein Ergebnis jener Task Force, die gemeinsam mit den Herstellern gebildet worden war. Demnach sind die Wartungen gemäß dem geltenden Regelwerk und den Empfehlungen der Hersteller durchgeführt worden. "Die Untersuchung hat gezeigt, dass hier weder ein Wartungsmangel noch ein systematischer technischer Fehler bei den Klimaanlagen der ICE 2-Flotte vorliegt", so Vorstand Ulrich Homburg.

Den Vorwurf, die Bahn habe wegen des geplanten Börsengangs zu sehr gespart, weist Sonderberater Brunnbauer zurück: "Die Wartung der Klimaanlagen ist absolut korrekt durchgeführt worden." Bei der anstehenden Komplettsanierung werde man versuchen, die Klimatechnik auf derart hohe Temperaturen nachzurüsten.

Bis dahin gibt die Deutsche Bahn immerhin ihren Mitarbeitern einige Tipps - in leicht verschwurbeltem Deutsch. Als vorbeugende Maßnahme soll "bei zu erwartenden Außentemperaturen ≥ 32° C bereits vorausschauend (in der Regel vormittags) die Sollwertgeber für Raumtemperatur in Stellung 'warm' gestellt werden."

So soll die "Gefahr einer Überlastung der Kälteanlage" reduziert und die Luft um mindestens fünf Grad abgekühlt werden. Allerdings bedeutet dies, dass selbst bei funktionierender Kühlung die Fahrgäste schwitzen müssen, denn 27 Grad sind immer noch recht warm und Fenster könnten nicht geöffnet, weil die Züge - zumindest theoretisch - eine Klimaanlage haben.

Zudem gibt das Papier unter der Überschrift "Umsichtig und verantwortungsvoll handeln" weitere Tipps: Die Zugchefs und -betreuer sollen bei besonderer Hitze die Reisenden in den betroffenen Wagen direkt ansprechen und besonders auf "Kinder, Schwangere, ältere Reisende und andere hilfsbedürftige Personen" achten. Falls möglich sollen ihnen Plätze in der 1. Klasse oder kühleren Waggons angeboten werden.

Zudem sollen die schwitzenden Kunden Freigetränke erhalten und alle anderen Möglichkeiten der Fahrgastbetreuung gemäß "Richtlinie 680.0050 ff. " ausgeschöpft werden. Gefettet ist der Satz abgedruckt: "Gehen Sie dabei kulant vor."

Unterdessen wurde bekannt, dass die Justiz nach dem Hitze-Kollaps mehrerer Schüler jetzt gegen den Zugchef ermittelt. Derzeit werde geprüft, ob er den Zug früher als in Bielefeld hätte anhalten müssen, nachdem die Klimaanlage ausgefallen war, sagte Oberstaatsanwalt Reinhard Baumgart am Mittwoch. Der Verdacht gegen den ICE-Zugchef: fahrlässige Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung.

Der letzte Zwischenfall ereignete sich am gestrigen Mittwoch nördlich von Bamberg. Dort blieb nach einem Oberleitungsschaden ein ICE liegen, wodurch die Klimaanlage im Zug bei Außentemperaturen von rund 35 Grad ausfiel. Aus Sicherheitsgründen mussten etwa 200 Passagiere knapp 90 Minuten in dem heißen Zug warten, bis Ersatzbusse für die Weiterfahrt nach Bamberg zur Verfügung standen.

Etwa ein Drittel der Reisenden musste wieder in den Zug einsteigen und eine weitere Stunde ausharren, bis der liegengebliebene ICE mit Hilfe von Dieselloks nach Bamberg geschleppt werden konnte. Mittlerweile funktionierten auch die Toiletten in dem ICE von Berlin nach München nicht mehr. Die Reisenden wurden vom Roten Kreuz mit kalten Getränken versorgt. Wie kulant sich die Bahn-Mitarbeiter verhielten, ist nicht bekannt.

Mitarbeit: Christoph Gröner, Markus C. Schulte von Drach

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