Süddeutsche Zeitung

Deutsch-russisches Verhältnis:Seelenverwandte Gegner

Russland ängstigt und fasziniert die Deutschen schon immer. Im gegenwärtigen Konflikt um die Ukraine ist aber Klarheit nötig. Die Bundesregierung malt sich die Realitäten schön, statt sich den unangenehmen Herausforderungen zu stellen.

Von Ralf Fücks

Der Konflikt in der und um die Ukraine spaltet die deutsche Öffentlichkeit wie kaum ein politisches Ereignis der jüngeren Geschichte. Dabei geht es weniger um die Ukraine selbst. Die Empathie oder Antipathie für den Aufstand gegen das Janukowitsch-Regime wird überlagert durch eine tiefer liegende Differenz: die Sichtweise auf Russland.

Wie schon in früheren Perioden der deutschen Geschichte spiegelt sich in der Russland-Politik zugleich Deutschlands Verhältnis zum Westen. Sowohl zu Russland als auch gegenüber der liberal-kapitalistischen Welt ist dieses Verhältnis ambivalent: Es schwankt zwischen Anziehung und Ablehnung, Feindschaft und Faszination.

Der Vernichtungskrieg, den Hitler-Deutschland gegen die Sowjetunion führte, und die anschließende Periode des Kalten Kriegs überdecken eine andere, tief im politischen und kulturellen Gedächtnis verankerte Tradition: die Idee einer deutsch-russischen Allianz. Sie reicht vom Bündnis zwischen Preußen und dem Zarismus gegen die revolutionären Umtriebe von 1789 und 1848 bis zu Gerhard Schröders "Achse Paris-Berlin-Moskau" als Gegenprojekt zur transatlantischen Allianz.

Ihr kultureller Untergrund ist das Gefühl einer Seelenverwandtschaft zweier Nationen, die sich dem schnöden Materialismus der angelsächsischen Welt verweigern. Dazu kommt ein wirtschaftliches Kalkül: Was heute der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft ist, war in der Weimarer Republik das Russland-Syndikat der Industrie. Heute wie damals ging es um den privilegierten Zugang zum Rohstoffreichtum des Riesenlands im Osten im Tausch gegen die Lieferung von Industriegütern. Die politischen Verhältnisse Russlands waren dafür nicht von Belang - Geschäft war Geschäft.

Für die Völker Mittelosteuropas verhieß das deutsch-russische Sonderverhältnis noch nie etwas Gutes, von der Teilung Polens zwischen dem Zarenreich, Preußen und Habsburg Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, dessen geheimes Zusatzprotokoll eine detaillierte "Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa" vorsah. Auch heute werden in Warschau oder Riga ungute Erinnerungen wach, wenn der Eindruck erweckt wird, als seien die Länder "Zwischeneuropas" bloße Manövriermasse zwischen den dominierenden Mächten des Westens und des Ostens.

Die Vogel-Strauß-Politik der EU trägt zur Eskalation bei, weil sie Moskau freie Bahn gibt

Die Frage der Souveränität der Ukraine ist ein Test für die europäische Friedensordnung. Der Verzicht auf gewaltsame Grenzveränderungen wurde bereits in der Schlussakte der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" fixiert, die im August 1975 unterzeichnet wurde. Nach dem Untergang der Sowjetunion wurde die Anerkennung der neuen Grenzen in zahlreichen Verträgen bekräftigt, auch zwischen Russland und der Ukraine.

Die Rückkehr zum bewaffneten Geschichtsrevisionismus, der bereits mit der Annexion der Krim durchexerziert wurde, legt die Axt an diese Ordnung. Das gilt auch für das globale Abrüstungsregime: Die territoriale Integrität der Ukraine wurde im Zuge der Vernichtung ihres Atomwaffenarsenals von Russland, den USA und Großbritannien garantiert. Wenn solche Sicherheitsgarantien nicht mehr das Papier wert sind, auf das sie geschrieben wurden, ist das ein klares Signal an die Staatenwelt: Nur wer über Atomwaffen verfügt, ist vor militärischen Interventionen geschützt.

Zur Disposition steht auch die Bündnisfreiheit der Staaten, die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgingen. Schon im Begriff des "nahen Auslands", mit dem die einstigen Sowjetrepubliken vom Kreml tituliert wurden, kündigte den Anspruch auf Restauration einer russischen Einflusszone an. Ihre Angehörigen verfügen nur über begrenzte Souveränität - ganz in der Tradition der Breschnew-Doktrin alter Zeiten. Gegenüber der Ukraine wird sie jetzt unverhüllt zur Anwendung gebracht.

Russlands Präsident Putin hat sich von der Duma die Generalvollmacht geben lassen, Truppen in die Ukraine zu schicken; Außenminister Lawrow droht mit Intervention, wenn die "legitimen Interessen Russlands" verletzt oder "russischstämmige Bürger" gefährdet seien. Der Kreml spielt die großrussische Karte aus wie einst Milošević den serbischen Nationalismus gegen die abtrünnigen jugoslawischen Republiken.

Moskau ist ein globales Hauptquartier des Autoritarismus

Es hilft nichts, vor der regressiven Wendung Russlands unter Putin die Augen zu verschließen. Die russische Führung, im Kern eine Seilschaft ehemaliger Geheimdienstfunktionäre, hat eine umfassende Abkehr vom Westen vollzogen. Moskau ist heute ein globales Hauptquartier des Autoritarismus. Seine Verbündeten teilen zwei Grundpositionen: die Ablehnung der liberalen Demokratie und die Opposition gegen die USA. Auch innenpolitisch hat das Regime einen antidemokratischen Kurs eingeschlagen. Parlament, Justiz und Massenmedien wurden gleichgeschaltet, bürgerliche Grundrechte außer Kraft gesetzt, das System der vertikalen Macht systematisch ausgebaut.

Die Bundesregierung allerdings malt sich die Realitäten schön, statt sich den unangenehmen Herausforderungen zu stellen. Die hilflosen Appelle an die russische Führung, doch bitte eine weitere Eskalation der Lage zu vermeiden; das an Selbstverleugnung grenzende Hinausschieben ernsthafter Sanktionen; die faktische Hinnahme der Zerlegung der Ukraine - all das sind Signale, dass von Deutschland kein Widerstand gegen die brachiale Machtpolitik Putins zu erwarten ist.

Nicht ein entschiedenes "Bis hierher und nicht weiter!" trägt zur Eskalation bei, sondern die Vogel-Strauß-Politik der EU, die der russischen Führung freie Bahn gibt. Niemand will eine militärische Konfrontation mit Russland. Aber das Land ist wirtschaftlich viel stärker von Europa abhängig als umgekehrt. Und für die russischen Eliten ist es keine verlockende Aussicht, von ihren Konten, Firmen und Feriendomizilen im Westen abgeschnitten zu sein. Daran ändert auch die nationalistische Woge nichts, die gegenwärtig die russischen Medien überschwemmt - eine Politik der heroischen Selbstisolierung bietet keine tragfähige Perspektive.

Die EU kann das Projekt eines einigen und freien Europa nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Dazu gehört das Versprechen, dass alle europäischen Nationen, die sich auf den Weg von Demokratie und Rechtsstaat machen, Mitglied der europäischen Gemeinschaft werden können. Die Ukraine ist heute der Prüfstein für dieses Versprechen. Auch für Russland muss die Tür zu einer engen politischen und wirtschaftlichen Assoziation mit der EU offen bleiben.

Eine strategische Partnerschaft kann es allerdings nur auf der Grundlage gemeinsamer Werte geben. Bis dahin gilt: so viel Kooperation wie möglich, so viel Konfliktbereitschaft wie nötig.

Ralf Fücks, 62, ist Vorstand der den Grünen nahe stehenden Heinrich-Böll-Stiftung. Er war Sprecher des Bundesvorstands der Partei und von 1991 bis 1995 Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Bremen.

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SZ vom 30.04.2014/fued
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