Deutsch-russische Beziehungen:Bescheidenheit könnte uns nicht schaden

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Die Kritik der Deutschen an Russland ist unangemessen. Wir sollten uns eines abgewöhnen: die Belehrung des Zurückgebliebenen durch den Fortgeschrittenen, des nicht so Guten durch den ach so Guten. Europa braucht ein gedeihliches Verhältnis zu einem Russland, das es sich nicht malen kann. Und dafür trägt Deutschland die Hauptverantwortung.

Erhard Eppler

Warum nur wählt die Mehrheit der Russen jenen Putin, von dem wir so wenig halten? Vielleicht weil sie nicht unbedingt eine Demokratie nach westlichem Muster wollen. (Foto: dpa)

Es war an einem vorübergehend ruhigen Abschnitt der Westfront im Dezember 1944. Im Keller eines Wohnhauses lagen ein paar Landser und plauderten, ehe sie zu schlafen versuchten. Ein alter Obergefreiter erzählte vom Einbruch des Winters 1941 vor Moskau. Jämmerlich gefroren hätten sie, Kleidung und Schuhwerk sei nichts für den russischen Winter gewesen. Ein paar russische Gefangene allerdings hätten wunderbare warme Filzstiefel angehabt. Und dann hätten sie, die Frierenden, die paar Russen eben umgelegt, um an die Stiefel zu kommen.

Der das fröhlich erzählte, war kein Nazi. Er hasste die braunen Bonzen. Ein stiller Zuhörer, damals 18 Jahre alt, war der Autor dieser Zeilen. Er, der Grünschnabel, sagte nichts. Aber er hat es nie vergessen.

Was er auch nicht vergessen hat, sind die Auswirkungen des Kalten Krieges auf unser kollektives Gedächtnis. Wir Deutschen haben inzwischen begriffen, was wir den Juden angetan haben. Was wir in Russland angerichtet haben, war lange tabu. Im Kalten Krieg waren dort die Bösen und hier die Guten. Dass diese Guten Millionen russischer Kriegsgefangener verhungern ließen, dass insgesamt 20 Millionen Menschen aus der Sowjetunion, Soldaten und Zivilisten, ihr Leben lassen mussten, dass die Überlebenden versklavt werden sollten, das ist nie so in unser Bewusstsein eingedrungen wie der Judenmord.

Schon Adenauer agierte auf einer Attitüde moralischer Überlegenheit

Im Gedächtnis geblieben ist vor allem die grausige Rache der Sieger. Schon Adenauer redete über die "Soffjetunion" aus einer Attitüde moralischer Überlegenheit. Das tun wir bis heute, wenn es um Russland geht.

Warum nur wählt die Mehrheit der Russen jenen Putin, von dem wir so wenig halten? Vielleicht weil sie - auch wegen der Katastrophe des "großen vaterländischen Krieges" - nicht unbedingt eine Demokratie nach westlichem Muster wollen, sondern ein geordnetes, starkes Russland, das ihnen Sicherheit verspricht, nach innen und nach außen. Was bei uns fast vergessen ist: Der Überfall, der Vernichtungskrieg und seine Folgen, ist in jeder russischen Familie präsent. Es gibt kaum eine Familie, die kein Opfer betrauert.

Einen anderen Grund für die Popularität Putins haben wir vielleicht vergessen, weil er mit uns nichts zu tun hat: das Chaos nach der Implosion des Kommunismus, als unter Jelzin die Mafia im Eintreiben von Schutzgeld erfolgreicher war als der Staat beim Einzug von Steuern. Russland war, als die harte Klammer der kommunistischen Diktatur plötzlich weg war, ein zerfallender Staat. Deshalb sind Millionen Russen jenem Wladimir Putin dankbar, der mit der Zeit die "Diktatur des Gesetzes" durchsetzte. Dass er dies nicht mit jenen Rechtsstaatsprinzipien tat, die die Alliierten den Deutschen nach 1945 beibrachten, ist für die meisten zweitrangig.

Viele von uns hatten gehofft, der neue Putin der zweiten Präsidentschafts-Phase werde nicht ganz der alte sein - sondern etwas großzügiger, toleranter, nachsichtiger, souveräner. Auch wir Deutschen dürfen dies hoffen. Die Frage ist nur, was wir dazu beitragen können.

Putin darf und muss, wie andere Politiker auch, kritisiert werden. Jedoch könnte uns Deutschen da eine gewisse Bescheidenheit nicht schaden. Könnte es nicht sein, dass er auf ein elementares Bedürfnis der Menschen im Land nach geordneter Sicherheit eingeht, das auch mit der deutsch-russischen Geschichte zu tun hat? Zumindest sollten wir uns um Fairness bemühen.

Stand eher die orthodoxe Kirche hinter den harten Strafen für Pussy Riot?

Könnte es nicht sein, dass nicht so sehr Putin, sondern die orthodoxen Bischöfe harte Strafen für die drei etwas überdrehten Mädchen von Pussy Riot verlangten, die nach ihrer Überzeugung eine Kirche geschändet hatten? War es fair, jedesmal, wenn ein kritischer Journalist oder eine Journalistin umgebracht worden war, anzudeuten, der Anstifter sitze im Kreml?

Könnte dies nicht auch Spätfolge jenes Gewaltchaos gewesen sein, das Putin fast überwunden hat? Und wenn es nach der neuen Gesetzeslage die deutschen politischen Stiftungen in Russland schwerer haben, könnte dies nicht eine Reaktion sein auf manches Überhebliche, das aus Deutschland zu hören ist?

Die Regierungen der Weimarer Republik haben mit der jungen, alles andere als demokratischen Sowjetunion sogar militärisch zusammengearbeitet. Außenpolitik, so meinten Politiker wie Gustav Stresemann, habe ihre eigenen Gesetze. Daran ist nicht alles falsch. Europa braucht ein gedeihliches Verhältnis zu einem Russland, das es sich nicht malen kann, und dafür trägt Deutschland die Hauptverantwortung. Ein Russland, das sich Asien, vor allem China zuwendet, würde Europa zeigen, wie klein und schwach es ist.

Der junge Soldat von 1944, dessen Bruder damals schon irgendwo in russischer Erde verscharrt war, gesteht, dass er sich gefreut hat, als Helmut Kohl mit Boris Jelzin in die Sauna ging, als Wladimir Putin und Gerhard Schröder mit dem Schlitten ausfuhren. Und dass ihm nicht ganz wohl war, als Angela Merkel dem russischen Präsidenten ein Gerichtsurteil vorwarf, das, bei aller berechtigten Kritik, der deutschen Rechtsprechung näher stand als stalinistischen Säuberungen.

Gut fand der Soldat von einst es wiederum, dass Merkel acht Ressortchefs mit nach Moskau nahm, denn dies war ein Zeichen dafür, was Russland uns bedeutet. Er wundert sich aber über manchen Kommentar, in dem Frau Merkel für ihren Mut gefeiert wird, Putin die Leviten zu lesen.

Auf die Gefahr hin, von empörten Verfechtern der allgemeinen Menschenrechte zurechtgewiesen zu werden: Ich bin Wladimir Putin dankbar dafür, dass er nicht einfach geantwortet hat: Kümmern Sie sich um Ihre eigene Innenpolitik, ich kümmere mich um unsere. Dankbar bin ich ihm auch dafür, dass er noch nie, offenbar auch nicht unter vier Augen, deutschen Kritikern zu bedenken gab: Es mag ja sein, dass ich Russland nicht so regiere, wie Frankreich oder Deutschland heute regiert werden.

Aber seid ausgerechnet Ihr Deutschen dazu berufen, uns Demokratie und Menschenrechte beizubringen? Dass er sich dies verkneift, zeigt, dass ihm die Partnerschaft mit Deutschland viel wert ist.

Wenn uns die Partnerschaft mit Russland ebenso viel wert ist, dann sollten wir uns eines abgewöhnen: das Kritisieren von oben herab, die Belehrung des Zurückgebliebenen durch den Fortgeschrittenen, des nicht so Guten durch den ach so Guten.

Kritik wird für den Kritisierten annehmbar, wenn der Kritiker nicht nur bemängelt - und in Russland ist vieles zu bemängeln -, sondern auch selbstkritisch fragt: Wer bin ich, der ich kritisiere? Was gibt mir das Recht zur Kritik? Frieden gibt es nicht einmal in der Familie ohne selbstkritische Reflexion. Sie kann auch zwischen Völkern nicht schaden.

Erhard Eppler, 85, war von 1968 bis 1974 Entwicklungshilfeminister und fast 20 Jahre lang Mitglied der Grundwertekommision der SPD.

© SZ vom 26.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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