Süddeutsche Zeitung

Desinteresse der Deutschen am Bundestag:Arena ohne Publikum

  • Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt: Drei Viertel der Deutschen haben in den vergangenen Monaten keine einzige Bundestagsdebatte im Radio oder im Fernsehen verfolgt.
  • Die Relevanz des Parlaments in der öffentlichen Wahrnehmung hat sich damit deutlich verringert.
  • Besonders groß ist das Desinteresse bei Ostdeutschen und Jungen.
  • Bundestagspräsident Lammert beklagt eine Nichtbeachtung des Parlaments durch die Medien.

Von Robert Roßmann, Berlin

Auf der Homepage des Parlaments ist die Welt noch in Ordnung. Der Bundestag sei das "Herz der Demokratie" und der Plenarsaal "der wichtigste Ort der politischen Auseinandersetzung in Deutschland", heißt es da ziemlich selbstbewusst.

Formal mag das zwar richtig sein. Der Bundestag ist das einzige direkt gewählte Verfassungsorgan, im Plenarsaal unter der Reichstagskuppel werden Kanzler gewählt und Gesetze verabschiedet. Dass es mit den Deutschen und ihrem Bundestag in der Praxis aber nicht ganz so einfach ist, belegt eine umfangreiche Studie, die an diesem Montag vorgestellt wird.

Das Werk der Bertelsmann-Stiftung, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, enthält eine Fülle von Zahlen, die das Bild vom Bundestag als wichtigster Bühne des politischen Diskurses erschüttern. So haben drei Viertel der Deutschen in den vergangenen Monaten keine einzige Bundestagsdebatte im Radio oder im Fernsehen verfolgt. Die Relevanz des Parlaments in der öffentlichen Wahrnehmung hat sich damit deutlich verringert. 1978 waren es lediglich 47 Prozent, 1984 sogar nur 37 Prozent, die keine Debatte verfolgt hatten.

Desinteresse bei Ostdeutschen und Jungen

Besonders schlecht schneiden bei der Frage die Ostdeutschen und die Jungen ab. Die Folgen dieses Desinteresses zeigen sich auch in anderen Werten. So können nur 54 Prozent der Bürger sagen, welche Parteien gerade in der Opposition sind. Sogar die Abgeordneten aus dem eigenen Wahlkreis sind für viele Deutsche unbekannte Wesen.

Der Bundestag leide offensichtlich unter einem gewaltigen "Wahrnehmungsdefizit seiner Debatten", konstatieren die Forscher. Das Parlament dürfe aber nicht durch Talkshows ersetzt werden, da dort "andere Faktoren als Wahlergebnisse" - nämlich Medienaffinität, dramaturgische Motive oder die Agenda des Gastgebers - entscheiden würden, "ob und wenn ja, wie viel Gehör einzelne Alternativen finden".

Die Forscher haben deshalb versucht, die Ursachen des Desinteresses zu ermitteln. Dazu haben sie auch die Berichterstattung in den wichtigsten deutschen Print- und Online-Medien über Bundestagsdebatten untersucht. Die Analyse ergab, dass in diesen Medien im vergangenen Jahr insgesamt 275 Beiträge über Debatten erschienen sind. Die Zahl ist - verglichen mit dem ersten Jahr der letzten großen Koalition - deutlich zurückgegangen. Damals gab es noch 468 Beiträge, also fast doppelt so viele wie diesmal.

Die Erhebung ergab außerdem, dass über einzelne Dax-Konzerne wie Siemens oder Volkswagen mehr berichtet wird als über alle Bundestagsdebatten zusammen. Aus Sicht der Forscher ist das eine alarmierende Entwicklung. "Wenn das Parlament als die zentrale Arena des politischen Wettbewerbs ausfällt oder die Bürger es schlicht nicht mehr als diese zentrale Arena erkennen, werden Wahlen als der wichtigste Verbindungsmechanismus zwischen Wählern und Amtsträgern in repräsentativen Demokratien beschädigt", stellen die Forscher fest. Die "geringe Sichtbarkeit" des Bundestags werde dadurch "zu einem Problem für die deutsche Demokratie".

Norbert Lammert wird sich durch diese Zahlen bestätigt fühlen. Der Bundestagspräsident beklagt schon seit Langem, dass die Medien das Parlament nicht gebührend beachten würden. Dabei hat er allerdings vor allem die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender im Visier. 2009 nutzte er sogar seine Rede zur Konstituierung des neuen Bundestags zur Medienschelte. Er monierte damals, dass die Sitzung im Hauptprogramm von ARD und ZDF nicht übertragen werde. Stattdessen zeige die ARD die Komödie "Schaumküsse" und das ZDF die 158. Folge der Serie "Alisa folge deinem Herzen". Ihm fehle "jedes Verständnis" dafür, dass das "üppig dotierte" gebührenpflichtige Fernsehen sogar an einem Tag wie diesem "mit einer souveränen Sturheit der Unterhaltung Vorrang vor der Information einräumt", schimpfte Lammert.

An der angeblich unzureichenden Berichterstattung von Zeitungen und Sendern allein kann die mangelnde Beachtung des Bundestags durch die Bürger aber nicht liegen. Zum einen überträgt Phoenix die Debatten regelmäßig. Außerdem können Interessierte über die Internetseite des Bundestag alle Debatten live verfolgen - nicht nur am Desktop, sondern auch mit jedem Smartphone. Diese Angebote hat es vor 30 Jahre nicht gegeben, trotzdem beachten heute weniger Bürger die Debatten.

Die Kanzlerin kommt nie

Die Bertelsmann-Stiftung bietet deshalb noch eine andere Erklärung an: Die bisher außerordentlich unattraktive Befragung der Bundesregierung. In Großbritannien handeln laut Studie 92 Prozent aller Berichte über das Parlament von den Prime Minister's Questions, bei denen sich der Regierungschef persönlich den Fragen der Abgeordneten stellen muss. In Deutschland hatten dagegen nur zwei Prozent der Berichte aus dem Bundestag die Regierungsbefragung zum Gegenstand. An dieser nimmt bisher bestenfalls ein Minister teil, die Kanzlerin kommt nie. Die Autoren der Studie schlagen deshalb unter anderem vor, dass sich künftig auch Angela Merkel regelmäßig dem Bundestag stellen muss. Dadurch könnten die Diskussionen im Plenum wieder lebendiger werden - und damit interessanter für die Bürger.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2255762
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.12.2014/fie
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.