Russische Geheimdienste inszenieren oder unterwandern offenbar Demonstrationen in westlichen Großstädten, um so Stimmung gegen die Ukraine zu machen oder den Nato-Beitritt Schwedens zu erschweren. Das geht aus geleakten Unterlagen hervor, die aus dem Sicherheitsapparat des Kreml stammen sollen. Demnach simulieren kleine Gruppen zum Beispiel antitürkische Kundgebungen, geben sich dabei als Ukrainer aus und agitieren gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan - nur um Propagandamaterial für Internetplattformen zu erzeugen. So soll offenbar der Eindruck einer antiislamischen Stimmung in Europa entstehen.
Die Unterlagen sind dem Londoner Dossier Center zugespielt worden, einer Rechercheorganisation des Kreml-Kritikers Michail Chodorkowskij. Die Echtheit lässt sich von dritter Seite nicht hundertprozentig überprüfen. Allerdings führen die darin genannten Links und Hinweise tatsächlich zu Demonstrationen, die so wie geschildert stattgefunden haben. Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR haben gemeinsam mit mehreren internationalen Partnern die Spuren verfolgt.
So haben Anfang März angebliche Mitglieder einer ukrainischen Gemeinde in Paris mit Hitlergruß und Sturmhaube gegen den türkischen Präsidenten Erdoğan demonstriert und dabei auch die Opfer des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar verhöhnt. Die Naturkatastrophe sei eine Rache für die Touristen, die in der Türkei Urlaub machen dürften. In einem der geleakten Papiere wird der Zweck dieser Aktion so dargestellt: Sie solle die "provozierende Reaktion" der ukrainischen Seite auf das Erdbeben in der Türkei sowie die "destruktive Nazi-Natur der proukrainischen Aktivisten und der ukrainischen Gesellschaft" belegen. Durch solche Aktionen lasse sich der Eindruck erzeugen, dass "hinter den vielen türkeifeindlichen Aktionen in Europa die ukrainische Gemeinde stecken könnte". Der Kreml äußerte sich auf Anfrage nicht zu den Vorwürfen.
Provokateure haben zudem offenbar in mehreren Städten Demonstrationen zu anderen Themen, etwa zu Pflegenotstand, Rentenreform oder Klima, mit Propaganda unterwandert, die sich gegen die Unterstützung der Ukraine richtet. Auch diese Auftritte in Paris, Den Haag, Brüssel oder Madrid dürften orchestriert gewesen sein, zum Teil wurden die identischen Plakate von denselben Personen benutzt. Fotos davon tauchten im Netz auf und suggerierten in der Kulisse der Großdemos den Eindruck einer breiten Stimmung gegen die Ukraine. Die Recherche der SZ und ihrer Partner belegt, dass die Verteilung des auf diese Weise produzierten Materials auf Facebook, Tiktok, Telegram oder Youtube hauptsächlich von drei Accounts aus Sankt Petersburg gesteuert wurde.
Wolfgang Ischinger, ehemaliger Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und Fachmann für internationale Beziehungen, nennt dieses Vorgehen "infam". Es könne, so Ischinger, einerseits dazu dienen, die Zustimmung der Türkei für einen Nato-Beitritt Schwedens zu verzögern und gleichzeitig die konservativen Kräfte in der Türkei zu stärken. Die würden sich - angestachelt von der angeblich antiislamischen Stimmung in Europa - umso entschlossener hinter Erdoğan versammeln. Dessen Wiederwahl am kommenden Sonntag gilt als nicht sicher.