Falschnachrichten:Das schleichende Gift der Verunsicherung

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Gezielte Falschnachrichten zur Europawahl kamen in den vergangenen Wochen aus Russland. (Foto: Fotos: imago images, Collage: SZ)

Desinformation kommt nicht auf einen Schlag als große Kampagne etwa zur Europawahl. Putins Helfer verbreiten ihre Halbwahrheiten und Falschinformationen konstant – und trickreich.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Der ukrainische Präsident ist ein leichtes Ziel. Wolodimir Selenskij soll Angriffe mit chemischen Waffen auf Russland geplant haben, er soll Hilfsgelder der EU und der USA unterschlagen, seine Frau vermittle mit ihrer Stiftung angeblich Kinder an Pädophile in Europa. Seit dem Frühjahr, das hat sogar einen wahren Kern, sei seine Amtszeit abgelaufen, und ohne freie Wahlen sei er nicht mehr legitimiert (Was nicht stimmt: In der Ukraine ist es gesetzlich geregelt, dass der Präsident im Kriegsfall so lange im Amt bleibt, bis der Kriegszustand aufgehoben ist).

Die russische Propaganda reicht von verdrehten Fakten bis hin zu wildesten Lügen, stetig gestreut und gezielt verbreitet, in der Absicht, die westliche Unterstützung für die Ukraine zu unterminieren. Hunderte solcher Falschbehauptungen kursieren im Netz, gespeist von unzähligen Accounts in den sozialen Medien. Und immer wieder verfangen sie, verbreiten Multiplikatoren sie weiter, immer wieder bekommen Menschen Zweifel: Was stimmt hier, und was nicht?

Für den Kreml ist das jedes Mal ein kleiner Gewinn auf den Schlachtfeldern im digitalen Raum. Dorthin hat Putins Russland den Kampf um die Wahrheit getragen, dort führt das russische Regime einen Informationskrieg gegen den Westen, sucht es, Wahlen zu beeinflussen mit Kampagnen, die nicht wie solche aussehen. Und auch wenn Putins Helfer im Netz zu den offensichtlichen Akteuren in diesem Kampf gegen die Demokratie gehören, so sind sie doch nur Teil einer steigenden Zahl an Informationskriegern mit unterschiedlichen Motiven, die vereint sind in ihrer Absicht zu manipulieren.

Die Angriffe werden professioneller

„Wir sehen ein sehr systematisches Vorgehen vonseiten der Angreifer“, sagt Lutz Güllner, der beim Europäischen Auswärtigen Dienst die Abteilung „Informationsintegrität“ leitet, eine 32-köpfige Taskforce der EU gegen Desinformation und Einflussnahme von außen. „Die Qualität, Professionalität in der Art und Weise, wie vorgegangen wird, entwickelt sich stetig weiter“, sagt er. Desinformation, das Verbreiten von Falschinformationen mit der Absicht, den öffentlichen Diskurs und die demokratische Meinungsbildung zu stören, wirke wie viele kleine Nadelstiche. Wie ein schleichendes Gift, das mit der Zeit die Demokratie zersetzt. Mit Blick auf Russland spricht Güllner auch gern von einem „Pro-Kreml-Ökosystem“.

In den vergangenen zehn Jahren soll der Kreml immer wieder versucht haben, die Integrität von Wahlen zu beschädigen, in Deutschland, Großbritannien und den USA – was die russische Präsidialverwaltung beharrlich bestreitet. Jetzt hat Russland offenbar die Europawahl in den Fokus genommen. Das zeigen die Auswertungen der mit den Manipulationsversuchen befassten EU-Behörden, das bestätigt Güllner, das hat potenziell jeder mitbekommen, der in den vergangenen Wochen in sozialen Medien aktiv war.

Und das zeigen die Themen, zu denen in jüngerer Zeit besonders viele Lügen verbreitet werden. Irre Behauptungen über Selenskij und die ukrainische Führung gehören genauso dazu wie falsche Aufrufe, man solle seine Wahlzettel unterschreiben oder darauf mehrere Kreuze machen (was die Stimmen ungültig machte).

Deutschland stand zuletzt besonders im Fokus von Lügenkampagnen

Besonders hohe Reichweite erzielen Falschnachrichten dann, wenn klassische Medien sie weiterverbreiten und damit auf eine höhere Glaubwürdigkeitsstufe heben. Erst vor ein paar Monaten kursierten Berichte, wonach es in der Pariser Metro ein Bettwanzenproblem gebe und Reisende diese Bettwanzen jetzt quer durch Europa verbreiteten – was aber nicht stimmte und offenbar dazu diente, vor den Olympischen Sommerspielen die Bevölkerung zu verunsichern. Angeblich, das war Teil der Geschichte, hatten Ukrainer die Bettwanzen eingeschleppt. Auch dahinter steckte Russland.

Genau wie hinter dem mittlerweile weithin bekannten Fall „Doppelgänger“, bei dem mutmaßlich mit dem Kreml oder russischen Diensten verbundene Akteure Webseiten von Medien wie Bild und Spiegel, der französischen Tageszeitung Le Monde oder dem britischen Guardian geklont und mit irreführenden Nachrichten gefüllt haben. Er ist Güllners Lieblingsbeispiel, weil er so viele Aspekte des Phänomens veranschaulicht. Weil der Fall zeigt, welchen Aufwand die Akteure betreiben, wie sie nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch manipulieren, wie lange sie ein solches Projekt vorbereiten. „Das ist über Monate, vielleicht sogar Jahre aufgebaut worden“, sagt Güllner.

IT-Forensiker haben dokumentiert, dass Inhalte der Doppelgänger-Kampagne zuletzt auffällig auf ein deutsches Publikum ausgerichtet waren. Da die Aktivitäten der Doppelgänger zugenommen hätten, während sich in Deutschland politisch einiges verschiebt, so schreiben es Experten der Softwarefirma Sentinel Labs, die an der Untersuchung beteiligt war, „vermuten wir, dass das Ziel des Netzwerks darin besteht, die Unterstützung für die Koalition im Hinblick auf die bevorstehenden EU-, Kommunal- und Landtagswahlen zu untergraben“.

Der Aufwand ist manchmal immens

Desinformation geht aber über irreführende Inhalte und technische Manipulation noch hinaus – sie reicht bis hin zur Bestechung von Amtsträgern, die bezahlt werden, damit sie prorussische Propaganda verbreiten. Im März flog der Personenkreis um die Webseite Voice of Europe auf, der Europaabgeordnete korrumpiert haben soll, darunter Maximilian Krah und Petr Bystron aus Deutschland, auf den Listenplätzen eins und zwei der AfD zur Europawahl. Beide waren nach Erkenntnissen des tschechischen Geheimdienstes mehrmals in Prag, wo Voice of Europe seinen Sitz hatte. Beide bestreiten, Geld angenommen zu haben.

Der Aufwand war auch hier immens. Ein Kreml-naher Financier hatte alte Firmen übernommen, Geschäftsführer eingesetzt und offenbar Menschen beschäftigt, die eine Menge redaktioneller Inhalte verfasst haben. Voice of Europe ist noch immer abrufbar und voller Texte, die zwar kontrovers und irreführend daherkommen, aber nicht unbedingt in die Kategorie Falschnachrichten fallen. Tschechien hat das Portal sanktioniert, es ist umgezogen, von Prag nach Kasachstan. Die EU-Staaten haben es kürzlich gemeinsam mit weiteren prorussischen Propaganda-Plattformen verboten; bald wird es wohl vom Netz genommen.

Der Fall zeige gut, wie groß der Instrumentenkasten für Desinformationskampagnen inzwischen ist, sagt Lutz Güllner: „Da ist das gesamte Drehbuch enthalten. Eine Online-Plattform, Medien, verwirrende Narrative, Menschen, die diese Narrative verbreiten – und die man zum Teil auch über Geldflüsse aufbaut.“ Voice of Europe mag enttarnt worden sein und das Bewusstsein für solche Operationen gewachsen. Aber die Schwäche, die in der Offenheit der europäischen Demokratien liegt und die gezielt ausgenutzt wird, die bleibt zwangsläufig bestehen.

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