Europäische Union:Die Zeichen stehen auf Deregulierung

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„Beispiellose Vereinfachung“: Mit der Reduzierung von Vorschriften für Unternehmen will die EU-Kommission Investitionen in Europa fördern. (Foto: IMAGO/Alberto Pezzali/IMAGO/NurPhoto)

Unternehmen sollen von Berichtspflichten zum Umweltschutz befreit und Auflagen für Bauern verringert werden. Für die EU-Kommission ist das lediglich ein Abbau von Bürokratie und überflüssigen Vorschriften.

Von Jan Diesteldorf

Wenn man einmal wörtlich übersetzt, was sich die Europäische Kommission gerade vornimmt, dann will sie vor allem eines tun: rotes Band zerschneiden. Cutting red tape, eine englische Chiffre für den Abbau von Bürokratie. Sie geht zurück auf das Spanien des 16. Jahrhunderts. Damals, unter Karl V., ließ die Regierung rotes Band um jene Dokumente wickeln, mit denen sich ihre Berater im Staatsrat dringend beschäftigen sollten, der Rest war mit farblosem Band gebunden. Die leuchtend rote Farbe war teuer und symbolisierte Macht. Kurze Zeit später übernahmen die Briten diese Methode.

Bis heute stellt man sich vor, wie einst ungezählte Menschen mit nichts anderem beschäftigt waren, als Schleifen um Gesetzestexte und Dekrete zu binden und wieder zu lösen. Und bis heute hält sich diese Metapher in der Politsprache für ausufernde, ineffiziente, widersprüchliche Vorschriften des Staates. Wer rotes Band durchschneidet, der entledigt sich also im übertragenen Sinne sinnloser Regeln. Die aktuellen Veröffentlichungen der EU-Kommission sind durchzogen von diesem Sprachbild. Erstens hat die Behörde anscheinend viele solcher Regeln entdeckt, die sie jetzt im Einklang mit Wirtschaftsverbänden als bürokratische Last einstuft. Und zweitens will sie einige von ihnen abschwächen oder zumindest deren Einführung verzögern.

Am Mittwoch präsentierte die Kommission im EU-Parlament in Straßburg ihr Arbeitsprogramm für 2025. Die Agenda ist vergleichbar mit dem, was sich eine Regierungskoalition vornehmen würde. Sie ist diesmal erstaunlich schlank und von dem Anspruch geprägt, so gut wie alles der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft unterzuordnen. Lässt man all jene Initiativen weg, bei denen die Kommission vorerst nur Kommunikationspapiere, Aktionspläne oder Roadmaps ankündigt, handelt es sich bei den meisten um Revisionen bestehender Gesetze.

Die Kommission nimmt den Grünen Deal wieder auseinander

Um ihre Ambition zu unterstreichen, was das Durchschneiden roter Bänder angeht, sind die Vorhaben mit dem Politikziel „Vereinfachung“ alle blau hinterlegt und sollen in diesem Jahr nach und nach vorgelegt werden. Zusätzlich listet die Kommission noch einmal alle Gesetze auf, die turnusgemäß 2025 zur Überprüfung anstehen – womit jeweils in vielen Fällen zumindest theoretisch die Gelegenheit verbunden ist, sie noch einmal aufzuschnüren und abzuschwächen. Das Signal an Europas Unternehmen ist deutlich.

Die Kommission flankiert ihr Programm mit dem Versprechen einer „beispiellosen Vereinfachung“, was ein schöneres Wort ist für Deregulierung. Eine weitere Metapher: Noch bis zur Sommerpause will die Behörde drei sogenannte Omnibusse präsentieren. Die heißen so, weil themenbezogen mehrere Gesetze gleichzeitig unter die Räder kommen sollen – angefangen mit teils noch nicht eingeführten Nachhaltigkeitsvorschriften. „Diese Omnibus-Pakete“, versprach Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis, der auch für „Umsetzung und Vereinfachung“ verantwortlich zeichnet, „sind erst der Anfang“.

Zuerst nimmt die Kommission drei Elemente des Grünen Deals wieder auseinander und korrigiert damit einen Teil jener Klima- und Umweltschutzagenda, die Ursula von der Leyens erste Amtszeit als Kommissionspräsidentin prägte. Erstens sollen die Pflichten zur Nachhaltigkeitsberichterstattung abgeschwächt werden, die Investoren an den Finanzmärkten zu grüneren Geschäften animieren sollten. Ohne konkret zu werden, verspricht die Kommission unter anderem „eine bessere Abstimmung der Anforderungen mit den Bedürfnissen der Investoren, angemessene Fristen, Finanzkennzahlen, die Investitionen in kleinere Unternehmen im Wandel nicht behindern“. Das lässt den Schluss zu, dass viele kleinere Unternehmen von der Pflicht ausgenommen werden könnten, Nachhaltigkeitsberichte zu erstellen.

Ähnliches soll, zweitens, beim Klimazoll CBAM passieren. Die Idee hinter diesem System: Wer CO₂-intensive Produkte aus Regionen importiert, in denen das Klimagas nicht wie in der EU etwas kostet, muss dafür einen Aufschlag zahlen und damit die anderswo auf der Welt verursachten Emissionen ausgleichen. 80 Prozent der Unternehmen, für die der Zoll gelten sollte, werden nun voraussichtlich verschont. Drittens steht das EU-Lieferkettengesetz infrage, das regeln soll, bis zu welchem Grad europäische Firmen für Rechtsverstöße wie Kinderarbeit oder Umweltstraftaten in ihrer Lieferkette haften müssen. Die Richtlinie war schon im Gesetzgebungsprozess wesentlich verwässert worden.

Ein weiterer Omnibus soll die Bedingungen von Investitionsfonds der EU-Kommission vereinfachen und ein dritter gezielt kleine und mittelgroße Unternehmen von Berichtspflichten befreien. Auch die Auflagen für Bauern in der EU sollen noch einmal verringert werden.

Was ist schiefgelaufen, wenn die Kommission so viel Gesetze korrigieren will?

Bei all dem drängt sich eine Frage auf: Was ist da schiefgelaufen, wenn die Kommission so viel an Gesetzen zu korrigieren hat, die sie erst in den vergangenen Jahren vorgelegt hatte? Danach gefragt, verwies Kommissar Dombrovskis auf „eine Zeit intensiver Regulierungstätigkeit“, die man gerade hinter sich habe. Das sei auch richtig so gewesen, „da wir die grüne und digitale Transformation unserer Wirtschaft vorantreiben wollten“. Allerdings seien dadurch eben in kurzer Zeit viele Gesetze erlassen wurden. „Jetzt ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen: Wo stehen wir, wie wirkt sich all diese Gesetzgebung aus, wo gibt es Überschneidungen, wo gibt es Unstimmigkeiten? Und wie können wir das alles vereinfachen?“

Die Zeichen stehen ob dieses Eingeständnisses also auf Deregulierung, sehr zur Freude der Konservativen von der Europäischen Volkspartei, der auch die deutschen Christdemokraten angehören. Daniel Caspary, Co-Chef der CDU/CSU im EU-Parlament, fordert von der Kommission, „sich endlich auch zu trauen, überflüssige Regelungen ganz abzuschaffen“. Grüne und SPD zeigten sich dagegen kritisch. „Wir akzeptieren keine Rückschritte bei Arbeitnehmer:innenrechten, Klimaneutralität und einem gerechten Übergang“, sagte etwa der Chef der Europa-SPD, René Repasi.

Die Wirtschaft frohlockt. „Es ist höchste Zeit, dass die Kommission die viel zu kleinteilige Regulierung stutzt“, sagte Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik, die zahlreiche größere deutsche Mittelständler vertritt. Die sind allerdings auch skeptisch, nicht zuletzt, weil ihnen aus Brüssel schon häufig in Aussicht gestellt wurde, bürokratische Hürden abzuschaffen. Das jetzt wieder neu formulierte Versprechen der Kommission, die Berichtspflichten für Unternehmen um 25 Prozent reduzieren zu wollen, wird im März zwei Jahre alt. Und das Arbeitsprogramm enthält noch 123 offene Gesetzesvorhaben aus der vergangenen Legislatur.

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