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Der unterschätzte Innenminister:Was Seehofer könnte, wenn er wollte

Der Bundesinnenminister kann nur zuspitzen und spalten? Falsch. Horst Seehofer hat ein feines Gespür für die Schwächeren in der Gesellschaft. Sollte er den Mut haben, könnte er etwas leisten, was der Kanzlerin nicht mehr gelingt.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Am Dienstagabend hat Horst Seehofer gezeigt, was er kann. Er hat im Umgang mit den gravierenden Problemen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge demonstriert, wie ein Politiker sich in Krisen verhalten sollte.

Der Bundesinnenminister entschuldigte sich bei der Bevölkerung für das verloren gegangene Vertrauen, er tat das im Namen der ganzen Bundesregierung. Er versprach den Abgeordneten Aufklärung und totale Transparenz: "Die Abgeordneten sollen alles wissen, was auch der Minister weiß." Und er war bemüht, bei allem Ärger ohne Zuspitzungen und Übertreibungen auszukommen.

Den Skandal von Bremen bezeichnete er klar als einen solchen. Ansonsten aber wütete er nicht, sondern erklärte, warum er nicht das Asylrecht schleifen, sondern nur das Asylverfahren und die Asylorganisation reformieren wolle. Da sprach mal nicht der große Zampano in ihm, sondern ein Minister, der sich selbst beherrschte. Wohltemperiert klang das.

Ob gewollt oder nicht - der CSU-Chef hat an diesem Abend mindestens angedeutet, wie er auch sein kann. Vor allem hat er daran erinnert, wie er früher häufiger gewesen ist, als er noch nicht in der Schlacht um die richtige Flüchtlingspolitik steckte. Als er noch der war, den man in den vielen Jahren seiner ersten Berliner Zeit vor allem kannte: der Politiker in der CSU, der ein feines Gespür hat für die Sorgen der Schwächeren in dieser Gesellschaft.

Und der es sich in Zeiten eines allmächtigen Edmund Stoiber auf die Fahnen geschrieben hatte, nicht den harten Hund zu geben, sondern den sensiblen Fährtenleser für die Ängste der kleinen Leute. Der Abgehängten. Der Ausgegrenzten. Auch derer, die als Ex-Gastarbeiter und Migranten längst zu diesem Land gehören. Wenn Seehofer damals über die Leute am Fließband bei Audi oder BMW sprach, dann ging es ihm um alle, nicht nur um die Deutschen.

In den vergangenen Jahren freilich hat er am Bild des knallharten Horst gearbeitet. Spätestens seit Herbst 2015 haben seine bisweilen über die Maßen aggressiven Attacken gegen die Bundesregierung, die Kanzlerin und den damaligen Bundesinnenminister immer neuen Streit befeuert - und von ihm selbst nur ein Bild geschaffen. Das Bild vom Ich-bin-dagegen-Seehofer.

"Kontrollverlust!" "Staatsversagen!" "Herrschaft des Unrechts!" Diese Begriffe waren es, mit denen Seehofer die politische Debatte vergiftet hat. Und mit denen er - ob absichtlich oder nicht - eine immer dickere Trennlinie zwischen den Dazugehörenden und den Nichtdazugehörenden zog.

Für ihn selbst hieß das, sich als zornigen, als spaltenden, auch als ausgrenzenden Politiker ins Gedächtnis einzugraben. Gebracht hat es bis dato wenig. Jedenfalls nicht ihm und auch nicht seiner CSU. Bei der Bundestagswahl brach nicht nur die CDU ein, auch die bayerische Schwesterpartei verlor in den Tagen vor der Bundestagswahl dramatisch und landete am Ende bei unter 40 Prozent. Für Seehofer und seine Partei war es ein Debakel.

Spalten statt einen

Und danach? Danach ist es kaum besser geworden. Von den gut zwei Monaten Amtszeit, die Seehofer als neuer Bundesinnenminister hinter sich hat, ist vor allem sein "Der Islam gehört nicht zu Deutschland"-Satz hängengeblieben. Ergänzt durch seine Forderung nach Ankerzentren zur Flüchtlingsaufnahme, die bislang nur eines erreichen: dass die meisten Bundesländer nicht mitmachen.

Ein wichtiger Grund dafür sind die wieder aggressiven Töne, mit denen die Ankerzentren aus der CSU begleitet werden. Wer mit Einrichtungen Erfolg haben will, in denen das Asyl-Bundesamt, die Ausländerbehörden, unabhängige Anwälte und zuständige Richter gemeinsam und gut organisiert das Asylverfahren durchführen sollen, darf nicht mit Begriffen wie dem von der "Anti-Abschiebe-Industrie" (CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt) das Klima zerstören.

Nun ist es für den Rest des Landes weitgehend egal, wenn CSU-Mann Dobrindt dem CSU-Mann Seehofer dadurch faktisch das Leben schwermacht. Nicht egal aber ist, dass im Ergebnis beide das Land immer weiter spalten, statt es zusammenzuführen.

Umso wichtiger wäre es, dass sich Seehofer wieder an den ganzen Seehofer erinnert. An jenen Seehofer, der zuletzt immerhin ein Mal aufblitzen ließ, wie breit sein Blick sein kann. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung erklärte er den Begriff Heimat und was er für ihn bedeutet. Er schrieb über die Verlustängste vieler Menschen, über das immer größere Bedürfnis nach Halt und Zusammengehörigkeit.

Er prägte Sätze wie diese: "Heimat ist eine ganz grundlegende und jeden Menschen berührende, nachhaltige Erfahrung mit anderen Menschen." Heimat sind für Seehofer Menschen und Orte, "die uns Halt und Identität geben".

Das Besondere an dem Aufsatz war freilich nicht nur die Sensibilität, mit der sich Seehofer über den aufgeladenen Begriff Heimat beugte. Das Besondere war, dass er in einem umfassenden Sinne integrativ argumentierte.

So heißt es an einer Stelle, ihm, Seehofer, gefalle der Begriff Heimat deshalb besser als Wörter wie Leitkultur oder Nation, "weil Deutschland seit Jahrhunderten der Ort in der Mitte Europas ist, der Menschen zur Heimat wurde, indem sie hier Halt fanden, sich geborgen, sich früher oder später zugehörig fühlten und zugehörig sein wollten, sich aus eigenem Antrieb 'integrierten' und somit letztlich den Zusammenhalt in unserem Land stärkten".

Das einzig Bedauerliche an dem Beitrag ist deshalb: Er kam und ging, ohne dass bisher Konsequenzen erkennbar wären. Die Aufgabe aber, das umzusetzen und vorzuleben, ist dringlicher denn je. Was also wäre, wenn Seehofer seine Worte ernst nehmen würde? Was wäre, wenn er sein Amt als das verstehen würde, was es früher war: Chef zu sein im sogenannten Allgemeinen Ministerium, das sich um alles und alle kümmert?

Dann könnte er seinen Kampf um mehr Sicherheit durch Polizei und andere Behörden mit der Botschaft verbinden, dass diese Sicherheit für alle, auch Migranten und Flüchtlinge, gelten müsse. Dann könnte er die Verteidigung unserer zentralen demokratischen Werte als Pflicht gegenüber allen beschreiben, die dagegen verstoßen. Egal, ob es sich um Islamisten oder um Rechtsradikale handelt.

Ja, dann könnte er das zentrale Ziel seines Heimatministeriums, abgehängte Regionen und Menschen wieder zu stärken, auf alle sogenannte Abgehängte übertragen. Er könnte und müsste dafür also nicht nur vernachlässigte Landkreise im Osten oder Westen besuchen, sondern auch heruntergekommene Stadtquartiere in Berlin, Wuppertal oder Duisburg, in denen vor allem Migranten leben.

Und er könnte und müsste eine Neuorganisation der Asylverfahren endlich mit einem Entwurf für ein modernes Einwanderungsgesetz verbinden, um neben den Begrenzungen auch die Offenheit zu unterstreichen. Einem Einwanderungsgesetz übrigens, nach dem angesichts eines enormen Fachkräftemangels auch die bayerischen Unternehmen seit Langem rufen.

Anders ausgedrückt: Neben den strengen Seehofer müsste ein integrierender Seehofer treten; neben den Sicherheitsminister ein Gemeinsamkeitsminister. Ein Minister, der auf diese Weise versucht, die Gesellschaft trotz der Spannungen zusammenzuführen und sie nicht - wie eine Kopie der AfD - auseinanderzutreiben.

Die Kanzlerin ist heute in der gleichen Lage wie einst Gerhard Schröder

Ob Seehofer das schafft? Schwer zu sagen: Er müsste sich nämlich im umfassenden Sinne als Bundesinnenminister begreifen, nicht nur als CSU-Außenstelle in der Hauptstadt. Und was noch schwerer ist: Er müsste das, was er in Berlin, in Cottbus und Duisburg tut, auch in Bayern verteidigen, im bayerischen Wahlkampf, in einer CSU, die derzeit von anderen Protagonisten geprägt wird. Wenn er den Mut hätte, diese Sicht auf die Welt als Gewinn zu beschreiben, dann könnte es vielleicht möglich werden. Auch in der CSU, in der keineswegs alle das laute, ausgrenzende Gebrüll für alleinseligmachend halten.

Ist das nur eine Illusion? Vielleicht. Bitter nötig wäre es trotzdem. Und das auch, weil eine andere Politikerin diese Aufgabe kaum mehr übernehmen kann. Gemeint ist Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nicht, dass sie es nicht versuchen würde. Aber der Hass, der ihr seit der Flüchtlingskrise aus dem rechten Lager entgegenschlägt, hat sie zur Projektionsfläche werden lassen für alle, die Berlin, die Aufnahme von Flüchtlingen, die Globalisierung sowieso für Mist halten.

Die vehemente Ablehnung strahlt bis in Teile des bürgerlichen Lagers aus. Das macht es ihr mittlerweile fast unmöglich, noch einmal umfassend integrativ zu wirken. Die Kanzlerin ist heute in der gleichen Lage wie einst Gerhard Schröder mit Blick auf die Linkspartei und die Linken innerhalb der Sozialdemokraten: Es gibt eine Form des radikalen Neins, das sie kaum mehr wird durchbrechen können.

Für Seehofer könnte das Aufgabe und Verpflichtung zugleich sein. Ob er diese Chance ergreift, kann nur er selbst entscheiden.

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