Der Tod von Kevin:Die Verwaltung eines Martyriums

Eine tote Mutter, ein drogensüchtiger Vater, ein ignorantes Amt - wie der Leidensweg des zweijährigen Kevin aus Bremen trotz aller Warnungen in die Katastrophe führte.

Ralf Wiegand

Apfelkuchen, es riecht nach Apfelkuchen an diesem Morgen. Das ist der Duft eines Zuhauses. Im Foyer des Hermann Hildebrand Hauses ist es ganz still, hinter der Tür rechts hört man das Trappeln kleiner Kinderfüße.

Ein Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, rennt den Flur auf und ab, bestens gelaunt, es winkt durch die Scheibe, versteckt sich neckisch in einer Ecke, lugt lächelnd hervor, winkt wieder.

Durch die Tür kommen kann es nicht, der Griff ist auf Augenhöhe eines Erwachsenen. In einem anderen Seitenflügel schreit ein Baby, auch hier eine Glastür, man sieht eine Frau mit einem Kind auf dem Arm.

Die Mutter des Babys ist es nicht. Alles wirkt so beschaulich, so heimelig. Wenn Kevin noch lebte, dann wäre er seit Dienstagmorgen hier, vielleicht würde er mit dem Mädchen rechts durch den Flur toben oder im Arm einer Erzieherin dösen. Und später würde es Apfelkuchen geben.

Aber Kevin ist tot.

Er ist jetzt der Fall Kevin aus Bremen.

Am Montagabend gegen halb acht hat Joachim Pape, 53, einen Anruf bekommen, "das ist ungewöhnlich, so spät ein Anruf vom Jugendamt". Pape sitzt in seinem kleinen Büro im ersten Stock des Hermann Hildebrand Hauses, das nur ein Übergangs-Zuhause ist, kein wirkliches.

Die Einrichtung dient dem Zweck, Kinder in Not aufzunehmen, weil sie in ihren Familien nicht länger bleiben können. Manchmal bringt das Jugendamt sie, meistens die Polizei. Im Hermann Hildebrand Haus finden sie Schutz, Ruhe.

Schlecht vom Start an

Der Anruf also: Er bringe am nächsten Morgen ein Kind vorbei, sagt der Mann vom Jugendamt, ob Junge oder Mädchen, sagt er nicht, auch nicht das Alter. Pape und sein Haus richten sich darauf ein.

Sie könnten zu jeder Stunde dort ein Kind aufnehmen, die Not macht ja auch nie Pause. Das Heim hat immer geöffnet.

26 Plätze hat das Hermann Hildebrand Haus, fünf davon sind Notaufnahmeplätze, dort darf ein Kind maximal vier Wochen bleiben, betreut von Sozialpädagogen, Erziehern, Psychologen. Jeder Tag kostet den Staat pro Kind 244 Euro.

21 Plätze sind für Anschluss-Unterbringung vorgesehen, wenn für die Kinder keine Pflegefamilie gefunden wurde und ihre eigene Familie noch nicht funktioniert, was oft so ist. Diese Plätze kosten 159 Euro pro Tag.

Es geht ums Geld, die Zahlen sind wichtig in Kevins Geschichte.

Kevin: Am 24. Januar wird der Junge im Klinikum Bremen-Nord in ein Leben hineingeboren, das nur 34 Monate dauern wird.

Die Verwaltung eines Martyriums

Der Start ist schlecht, die Mutter des Kindes ist drogensüchtig, Kevin muss bis März im Krankenhaus bleiben. Danach werden er und seine Mutter in eine Klinik nach Heiligenhafen überwiesen, zur Entgiftung.

Vom ersten Atemzug an lebt das Baby am Rand der Gesellschaft. Auch der Vater ist arbeitslos, nimmt Drogen, er ist aktenkundig.

So heißt das, wenn jemand Vorstrafen hat und die Polizei ihn mit Namen kennt. Man kann das mit dem Rand der Gesellschaft auch wörtlich nehmen.

Gröpelingen, wo Kevin in der Wohnung seiner nicht miteinander verheirateten Eltern wohnen wird, ist ganz im Westen von Bremen. Die Wohnung liegt in der Kulmer Straße, in einem Mietshaus am Ende einer Sackgasse.

Wenn man vor den Häusern steht, im Wendekreis der Sackgasse, glaubt man für eine Minute, es sei ja gar nicht so schlimm hier. Dann rast hinterm Haus der erste Zug vorbei.

Dann bemerkt man den säuerlichen Geruch in der Luft, den man nicht orten kann.

Dann fliegt der Blick über schwarze Fenster, denn ungefähr jede dritte Wohnung steht leer.

Dann brüllt ein Mann im dritten Stock, das Fenster ist offen: "Scheiße, so eine Scheiße hier, was weiß denn ich, halt's Maul!"

Es ist nicht gut hier.

Thies Hagge kennt sich aus mit Randlagen der Gesellschaft, er ist Pastor in Hamburg-Jenfeld und hat vor eineinhalb Jahren die kleine Jessica beerdigen müssen. Das Kind ist gestorben, neun Jahre alt, zum Skelett abgemagert, von den Eltern eingesperrt wie ein Tier, in einem Mietshaus mit Balkonen und offenen Fenstern und leer stehenden Wohnungen.

"Nach dem Tod von Jessica", sagt Hagge, "hat sich etwas verändert." Die zuständigen Stellen seien wacher geworden. Die Aufmerksamkeit von Nachbarn sei größer. Aber so viel anders ist es auch nicht geworden, "dass ich sagen könnte, dass so etwas hier nie mehr passieren wird".

Bremen ist von Veränderungen weit entfernt. Die Stadt ist noch ganz am Anfang, sie verharrt im Entsetzen, sucht nach Schuld, schämt sich für ein "unverzeihliches Versagen", wie Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen Kevins Geschichte zusammengefasst hat. Der Bürgermeister ist ein Teil davon.

Kevins Leben endete irgendwann in den letzten Tagen, Wochen oder Monaten - noch kennt die Gerichtsmedizin angeblich das Todesdatum nicht.

Die Verwaltung eines Martyriums

Er wurde am Dienstag gefunden, als Polizisten gewaltsam die Wohnungstür in der Kulmer Straße öffneten, um das Kind dem Vater wegzunehmen und in den Stadtteil Oberneuland zu bringen, in den Vinnenweg, ins Hermann Hildebrand Haus, wo Joachim Pape und sein Team auf ihn warteten.

"Als er nicht kam, habe ich das Jugendamt angerufen. Da muss gerade die Nachricht eingegangen sein", sagt Pape. Kevins Leiche lag im Kühlschrank, sie wies schwere äußere Verletzungen auf, Brüche, Blutergüsse, auch am Kopf.

Das alles wusste Pape nicht, als er fragte, wann das Kind denn nun komme.

Das kommt nicht mehr, antwortete man ihm da.

Kevin, so klein wie er war, hatte eine dicke Akte beim Jugendamt. Seine Eltern kommen von Anfang an nicht mit ihm zurecht. Schon im Sommer 2004 besteht der Verdacht auf Kindesmisshandlung, die Polizei kommt.

Das Kind ist unverletzt, aber Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Eltern kommen auf. Im Oktober kommt Kevin ins Krankenhaus, mit Knochenbrüchen.

Im November 2004 endlich holt ihn die Polizei ab und bringt ihn mitten in der Nacht zum ersten Mal ins Hermann Hildebrand Haus.

Joachim Pape erinnert sich gut an Kevin: "Ein kleiner, blonder Junge, der einem sofort leid tat, wenn man ihn zum ersten Mal sah." Fünf Tage bleibt Kevin da, dann kommt er zurück zu den Eltern, die da noch beide leben.

Der Familienkrisendienst hilft für sechs Wochen. Im Februar 2005 sorgt sich der Kinderarzt, weil Kevin abgenommen hat, zwei Wochen später ist es wieder in Ordnung. Das Jugendamt schaut ihn sich an, Kevin ist okay.

So geht das immer hin und her, Krisen wechseln sich mit kleinen Erfolgsmeldungen ab. Die Bremer Sozialbehörde hat die ganze Chronologie des Falles aufgelistet.

Einen Tag nach Kevins Tod steht sein aktenkundiges Leben auf fünf Seiten voller Daten, Amtshandlungen, Begutachtungen, Diskussionen, Einweisungen, Rückgaben, Polizeibesuchen.

Das Dokument sagt nicht die ganze Wahrheit.

Die Verwaltung eines Martyriums

Aber es entlarvt, dass Kevin unter behördlicher Aufsicht starb.

Im November 2005 ist es wieder soweit: Kevin kommt zum zweiten Mal ins Hermann Hildebrand Haus. Die Villa liegt in Bremens schönster Ecke, auf einem parkähnlichen Grundstück. Sie ist nach Hermann Hildebrand, einem früheren Bürgermeister benannt.

Sein Profil hängt in Stein gemeißelt im Foyer, drunter steht: "Ein Leben in Güte und Selbstlosigkeit."

Ein Jahr liegt zwischen den beiden so genannten "Inobhutnahmen". Wieder ist es die Polizei, die ihn abliefert.

Pape und seine Mitarbeiter sind entsetzt, der Junge ist blass, schwach. Er hat, das sehen sie schnell an ihren Akten, innerhalb eines Jahres nur 500 Gramm zugenommen. Kevins Mutter ist tot.

Sie starb kurz zuvor, "Fremdeinwirkung nicht ausgeschlossen", notierte die Notärztin. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Kevins Vater, der zunächst in der Klinik Dr. Heines landet, einem psychiatrischen Krankenhaus - kaum 500 Meter vom Hermann Hildebrand Haus entfernt.

Thies Hagge, der Pastor aus Hamburg, kennt viele solcher Familien oder das, was von ihnen übrig bleibt.

Der Junge wird Chefsache

Er kennt den Reflex, dass die Gesellschaft sagt, "nehmt denen doch die Kinder weg". Aber das ist ja oft alles, was diese Menschen noch haben.

Sie sind, wie Kevins Vater, drogensüchtig, arbeitslos, vorbestraft. Sie trinken. Aber sie sind Vater oder Mutter.

"Ein Kind, das ist endlich jemand, der nur auf sie angewiesen ist." Ein Kind, so schlecht sie es auch behandeln, ist für sie oft der einzige Wert des Lebens.

In der Nacht zum 13. November 2005 nimmt das Hermann Hildebrand Haus Kevin auf, am 22. November soll er schon wieder entlassen werden, "da war die Mutter noch gar nicht beerdigt", sagt Joachim Pape.

Seit 17 Jahren ist er Leiter der Einrichtung für notleidende Kinder, es hat sich in dieser Zeit einiges verändert. Normalerweise, sagt er, nahm das Haus im Jahr 100 Kinder auf. 2005 waren es nur noch 44.

Das Land Bremen, hoch verschuldet, muss sparen, da bleibt auch das Soziale nicht ungeschoren.

Die Verwaltung eines Martyriums

Zu dieser Zeit läuft eine erregte Diskussion darüber, ob die Plätze für die teure "institutionelle Inobhutnahme", also die Heimunterbringung, nicht reduziert werden sollten.

Pape bemerkt in dieser Diskussion, dass "die soziale Mängellage in der Stadt schlimmer wird, aber die Zahl der Notaufnahmen geringer". Und dann kam Kevin und sollte "in überstürzter Eile", sagt Pape, seinem drogensüchtigen, arbeitslosen, vorbestraften, auf Bewährung lebenden, psychisch labilen Vater zurückgegeben werden, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen eines möglichen Tötungsdelikts läuft.

Pape will das nicht akzeptieren.

Er hat zu dieser Zeit noch ein zweites Kind in seiner Obhut, Florian, 13. Auch um ihn macht er sich große Sorgen, denn er soll in eine völlig vermüllte Wohnung zurück, in der es nicht einmal Bettwäsche gibt. Das Jugendamt will es so.

"Wenn die Rückgabe von Florian und Kevin Standard in der Bremer Politik wird, ist das mit mir nicht zu machen. Dann steht meine Arbeit in Frage. Dann ist es nicht mehr mein Job", sagt Pape.

Er schreibt die Fälle auf, anonymisiert sie aus Datenschutzgründen und gibt sie dem Vorstand des Hermann Hildebrand Hauses. Da sitzt auch Bürgermeister Böhrnsen drin, ehrenamtlich.

Böhrnsen will mehr wissen, erfragt die Namen der Kinder, reicht sie an seine Senatorin für Soziales weiter, Karin Röpke. Sie kümmere sich darum, sagt sie.

Kevin ist jetzt Chefsache.

Aber der Skandal beginnt erst.

Die Verwaltung eines Martyriums

Pape versucht, Aufschub für Kevin zu bekommen, er schlägt vor, wenigstens ein paar Wochen zu warten, bis sich der Vater stabilisiert hat. Er hat Kontakt zum behandelnden Kinderarzt, der entsetzt ist, als er hört, das Jugendamt wolle dem Vater das Kind geben.

Am 17. November 2005 war das Jugendamt zum Vormund des Kindes bestellt worden, es darf damit über den Aufenthalt entscheiden.

In Bremen gibt es derzeit 620 Amtsvormundschaften. Drei Personen vom Jugendamt kümmern sich darum, sie sind rechtlich für diese Kinder verantwortlich.

Praktisch wird die Betreuung in den fünf Sozialzentren erledigt. Dort sitzen die, die früher Sachbearbeiter hießen. Heute: Case Manager.

Den Case Manager, der Kevins Akte hat, lässt Pape nicht in Ruhe. Er schildert ihm die Defizite des Kindes, motorisch, sprachlich. Der Mann kommt nicht ein einziges Mal ins Heim, um sich Kevin anzusehen.

"Haben Sie denn mit dem Kinderarzt gesprochen?", will Pape wissen. Nein, habe ihm der Case Manager geantwortet, aber er habe mit dem Arzt des Vaters in der Psychiatrie gesprochen. Dieser sei der Meinung, es sei gut für den Vater, das Kind zurück zu bekommen.

Gut für den Vater?

"Sogar ein Vater, der in normalen Verhältnisse lebt, wäre mit einem kleinen Kind überfordert", sagt Pape. Aber Kevin soll einem vom Leben aus der Spur geworfenen Mann anvertraut werden, am Tag von dessen Entlassung aus der Psychiatrie.

Pape erinnert sich an einen Besuch des Vaters im Kinderheim, die Psychiatrie liegt ja ganz in der Nähe.

Die Verwaltung eines Martyriums

Der Mann habe unter Einfluss von Drogen oder Medikamenten gestanden. Nach dem Besuch habe er den Weg zurück nicht ohne Hilfe gefunden.

Das Jugendamt gewährt ein paar Tage Aufschub, aber am 28. November wird Kevin abgeholt. Der Sachbearbeiter, behauptet Joachim Pape, habe den Bericht aus dem Kinderheim noch gar nicht gelesen, als er diese Entscheidung traf.

Das Sozialzentrum entscheidet trotz unterschiedlicher Ansichten über die Erziehungsfähigkeit des Vaters zu dessen Gunsten, weil der verspricht, zu seiner Mutter zu ziehen.

Wie viel Unglück kann so einem kleinen Kind widerfahren? Bekam der Vater das Kind, weil er es wollte - oder weil er es sollte?

Weil das Sozialzentrum gleich beide therapieren will, den Vater und das Kind, in dem es sie zusammenzwingt? Oder waren die 244 Euro pro Tag zu viel, die 159 für jeden Tag ab der fünften Woche im Heim?

Immer wieder Beschwerden

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Immer wieder teilen irgendwelche Menschen dem Sozialzentrum ihre Bedenken über den Vater mit. Der ist nur ein paar Wochen bei der Mutter in Niedersachsen, kommt im Januar 2006 nach Bremen zurück. Lebt allein.

Die Bewährungshelferin zweifelt an seiner Erziehungsfähigkeit und teilt das der zuständigen Behörde mit. Die gibt das Kind ab Februar in Tagespflege. Ab März kommt Kevin nicht mehr.

Im April beschließt eine so genannte Fallkonferenz, von denen es in Kevins kurzem Leben etliche gab, dem Vater weitere Hilfe zu geben, Kevin zu fördern. Der Vater nimmt die Termine nicht wahr, im Juni kommt er in Geldschwierigkeiten, im Juli, im August, im September - immer wieder Beschwerden darüber, dass der Vater Hilfe verweigert.

Niemand sieht das Kind in dieser Zeit. Der Kinderarzt war wohl der letzte, der sich an Kevin bewusst erinnert. Das war im Juli.

Mitarbeiter des Jugendamts oder des Sozialzentrums dürften Kevin aller Wahrscheinlichkeit nach im April zuletzt gesehen haben. Bei Gefahr im Verzug hätte das Jugendamt jederzeit die Polizei zu Hilfe rufen und Kevin aus der Wohnung holen können. Ohne Gericht.

Und das Engagement des Bürgermeisters, der Sozialsenatorin, die den Fall doch kannten?

"Man fragt sich, ob man oft genug nachgefragt hat, ob man sich mehr hätte kümmern sollen", sagt Böhrnsen am Tag nach Kevins Tod. Karin Röpke, die Senatorin, die oberste Dienstherrin der Ämter, die Kevin eigentlich beschützen sollten, tritt zurück.

"Ich bin persönlich betroffen", sagt sie. Joachim Pape vom Kinderheim fasst das Problem in einem Satz zusammen, der Gänsehaut macht: "Wissen Sie, es weht ein kühler Wind durchs Jugendamt."

Am Dienstag, dem 10. Oktober, sollte endlich ein richterlicher Beschluss zur dritten institutionellen Inobhutnahme in Kevins kurzem Leben umgesetzt werden. Acht Tage, nachdem ein Gericht so entschied, drei Wochen, nachdem das Jugendamt endlich die Geduld mit Kevins Vater verloren hatte.

Als hätte Kevin noch alle Zeit der Welt gehabt.

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