Der phänotypische Nazi: Horst Wessel:Schalmeien und der Kampf um Kiez-Kneipen

Sein Lied war die Hymne der NSDAP. Jetzt beschäftigt sich ein Buch mit der für die Nazis exemplarischen Randfigur Horst Wessel.

Johannes Willms

Der 22-jährige SA-Mann Horst Wessel, der am Abend des 14. Januar 1930 durch einen aus nächster Nähe abgefeuerten Pistolenschuss schwer verletzt wurde und der am 23. Februar an dessen Folgen starb, ist ein bekannter Unbekannter. Der Tatort war das Untermietzimmer, in dem Horst Wessel mit seiner Verlobten Erna Jänichen, einer ehemaligen Prostituierten, in der Großen Frankfurter Straße 62, der späteren Stalin-Allee und heutigen Karl-Marx-Allee in Berlin-Friedrichshain lebte. Zu postumer Berühmtheit gelangte Horst Wessel allein dadurch, dass ihn der damalige NSDAP-Gauleiter von Berlin Joseph Goebbels wie keinen anderen der "nationalsozialistischen Märtyrer (...) zum Heldenbild emporgedichtet" hat.

So urteilte Konrad Heiden bereits in seiner 1932 veröffentlichten "Geschichte des Nationalsozialismus", und mit diesem bis heute gültigen Befund ließ es die historische Aufarbeitung des Dritten Reichs bislang mit dem Komponisten und Lieddichter des nach ihm benannten "Horst-Wessel-Lieds", das zur offiziellen NSDAP-Hymne wurde, ein Bewenden haben.

Umso bemerkenswerter und verdienstvoller ist es deshalb, dass Daniel Siemens jetzt eine eingehende Untersuchung vorgelegt hat, die den vor allem in der chaotischen Spätphase der Weimarer Republik und in den Anfangsjahren des Dritten Reichs überaus wirkmächtigen Mythos eines "Christus-Sozialisten", zu dem der ermordete SA-Sturmführer Wessel von Goebbels systematisch aufgebaut wurde, unter unterschiedlichen Blickwinkeln ausleuchtet.

Versäumter Krieg

Die von Siemens vorgelegte Arbeit bringt zwar keine Revision des bislang schon Bekannten, aber sie erhellt eine Fülle von Zusammenhängen und Hintergründen, die Horst Wessel, der bislang nur Stoff für Fußnoten lieferte, als geradezu phänotypischen Nazi ausweisen. Dafür steht schon ein, dass Horst Wessel zu der Generation der zwischen 1900 und 1912 Geborenen gehört, deren Alterskohorte sehr viele Angehörige der späteren nationalsozialistischen Funktionselite wie Heinrich Himmler, Adolf Eichmann, Josef Mengele, Reinhard Heydrich, Martin Bormann, Albert Speer oder Rudolf Höß aufweist, um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen.

Was Horst Wessel mit diesen Männern verband war, wie Siemens treffend schreibt, "das vermeintlich positive Kriegserlebnis der Väter versäumt" zu haben "und von der krisengeschüttelten Republik um ihre Zukunft betrogen zu sein".

Das Verlangen, dieses Bewusstsein unverschuldeten Verlusts zu kompensieren, gab für viele Angehörige dieser Generation, die aus bürgerlichen Verhältnissen stammten, den Anstoß, sich als Jugendliche nach dem Ersten Weltkrieg der extremen Rechten anzuschließen.

Keine Chance aufzubegehren

Ausschlaggebend für diese Entscheidung war aber nicht nur, wie Siemens am Beispiel des am 9. Oktober 1907 in Bielefeld als erster Sohn eines protestantischen Pfarrers geborenen Horst Wessel überzeugend nachweist, das Erlebnis eigener Zukunftslosigkeit in einer bürgerlichen Zivilgesellschaft, die durch die Kriegsniederlage und die daraus resultierenden schweren Wirtschaftskrisen mit Hyperinflation heillos zerrüttet war, sondern vor allem auch die im Elternhaus herrschenden und den Jugendlichen nachhaltig prägenden politischen Anschauungen.

Mit seiner unbedingt völkisch-nationalistischen Überzeugung, die auch die Predigten des 1879 geborenen Pastors Dr. Wilhelm Wessel prägten, gehörte der Vater Horst Wessels fraglos zu den geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus, wie Klaus Mann bereits 1939 schrieb.

Wilhelm Wessel starb 1922. Das beraubte den damals 15-jährigen Horst der Chance, gegen die väterliche Autorität aufzubegehren und sich auch mit dessen Weltanschauung kritisch auseinanderzusetzen. Insofern war es nur konsequent, dass sich der Sohn die politischen Ansichten des Vaters zu eigen machte und sich als Gymnasiast in Berlin Jugendverbänden anschloss, die dem politischen Radikalismus der nationalen Rechten verpflichtet waren.

Damit begann eine politische Lehrzeit, die Horst Wessel, der Ostern 1926 sein Abitur ablegte, zur NSDAP führte, in die er am 7. Dezember 1926 eintrat. Gleichzeitig wurde er Mitglied der SA, der uniformierten Sturmabteilung der Partei, die damals im "roten" Berlin maximal 450 gewaltbereite Schläger aufbieten konnte.

Lesen Sie, wie sich das Potential des Wessel-Mythos entfalten konnte.

Im Visier der Kommunisten

Als SA-Mann fiel Horst Wessel, der in Berlin ein Jura-Studium begonnen hatte, das er aber rasch völlig vernachlässigte und schließlich abbrach, weniger durch Gewaltbereitschaft als vielmehr durch eine rastlose agitatorische Tätigkeit auf, mit der er seinem Vorbild, dem Berliner NSDAP-Gauleiter Goebbels nacheiferte. Allein im Jahr 1929 soll er, wie Siemens schreibt, als Redner auf 56 Versammlungen gesprochen haben. Dies wie sein spektakulärer Einfall, eine eigene Schalmeien-Kapelle aufzustellen, die bei SA-Umzügen aufspielte und die das bisherige Monopol der kommunistischen Kampfverbände, die dieses leicht zu spielende Instrument bei ihren Demonstrationen anstimmten, außer Kraft setzte, ließ ihn in der SA rasch Karriere machen.

Am 1. Mai 1929 erhielt er die Führung des kleinen SA-Trupps 34 im Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain, der wegen Wessels großer Rekrutierungserfolge schon wenig später in "SA-Sturm 5" umbenannt wurde.

Das Recht auf den Pfarrersohn

Die SA-Schalmeien wie vor allem seine Rolle als Chef der SA im Bezirk Friedrichshain, die Wessel mit einigem agitatorischen Erfolg spielte, brachten ihn zunehmend ins Visier der Kommunisten. Friedrichshain war eine der "roten Hochburgen" im damaligen Berlin, die es gegen die "braunen Bataillone" Hitlers zu verteidigen galt, die seit 1929 verstärkt dazu übergingen, Stützpunkte im proletarischen Feindesland zu erobern. Dabei handelte es sich um kommunistische Stammkneipen, die von der SA erobert und zu "Sturmlokalen", sprich zu Versammlungsorten von SA-Leuten und Sympathisanten umfunktioniert wurden.

Diese teilweise mit großer Brutalität von beiden Seiten ausgefochtenen Kämpfe um die Kneipen des "Kiez" erklärt sich daraus, dass diese angesichts der rapide anschwellenden Arbeitslosigkeit und der damit verknüpften sozialen Verelendung der Arbeiterschaft einen Ersatz für Geborgenheit darstellten. Allein deshalb war es so eminent wichtig, wer hier das Sagen hatte und damit das ideologisch-politische Milieu bestimmte. Bei diesen Auseinandersetzungen scheint sich Horst Wessel hervorgetan zu haben. Diese Behauptung lieferte jedenfalls das Fundament des Mythos, den Goebbels nach der Ermordung Wessels sofort und mit großem Geschick in die Welt setzte.

Für dessen große propagandistische Wirkung liefert bereits die Urteilsbegründung im ersten Wessel-Prozess vom September 1930 einen Hinweis, denn sie bescheinigte allen Verurteilten, aus politischer Überzeugung gehandelt zu haben. Diese Bewertung wurde einerseits durch die politische Tätigkeit des Opfers wie andererseits dadurch nahegelegt, dass nicht nur der Haupttäter, der Zuhälter Ali Höhler, lose Verbindungen mit der KPD unterhielt. Keine Berücksichtigung hingegen fanden mögliche andere Tatmotive, die angesichts des Vorlebens von Wessels "Verlobter" Erna Jänichen nicht weniger plausibel waren und die auf Rivalitäten im Zuhältermilieu hindeuteten.

Kultische Verehrung durch die protestantische Kirche

Das ganze Potential des Horst-Wessel-Mythos konnte sich aber erst nach Hitlers "Machtergreifung" Ende Januar 1933 entfalten. Besonders anfällig dafür war, wie Daniel Siemens an zahlreichen Belegen zeigt, die protestantische Kirche, in deren Kreisen dem toten Horst Wessel eine geradezu kultische Heiligenverehrung gespendet wurde. Im Oktober 1937, an Wessels 30. Geburtstag, wurde etwa in Bremen-Sebaldsbrück der Grundstein für eine evangelische "Horst-Wessel-Kirche" gelegt.

Der Bremer Landesbischof der Deutschen Christen rechtfertigte diese seltsame Namensgebung damit, die Kirche habe Anspruch darauf, den Pfarrersohn "Horst Wessel als den ihrigen zu bezeichnen". Diese Vereinnahmung des Nazi-Heiligen mochte Hitler indes nicht dulden, der es mit einem Führererlass untersagte, "dass kirchliche Gebäude nach Kämpfern und Helden der nationalsozialistischen Bewegung benannt werden".

Dieses Beispiel, das nur eines von vielen ist, zeigt nicht zuletzt, wie mentalitätsgeschichtlich ertragreich die Auseinandersetzung mit einer exemplarischen Randfigur des Nationalsozialismus sein kann. Allein dieser Nachweis lohnt die Lektüre dieses Buchs.

Daniel Siemans: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten. Siedler Verlag, München 2009, 351 Seiten, 19,95 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: