1968:Der lange Weg zur späten Emanzipation

Einkaufen im Bikini in München, 1968

Einkaufen im Bikini auf dem Münchner Viktualienmarkt 1968.

(Foto: SZ Photo)

Die Frauen- und Homosexuellen­bewegung von 1968 setzt heute Maßstäbe. Erst in Zeiten von "Me Too" und sozialen Medien entfaltet der Satz "Das Private ist politisch" seine volle Wucht.

Kommentar von Kia Vahland

Über ein Erbe lässt sich erbittert streiten. Wer bekommt was? Will dieser oder jener Nachkomme überhaupt das Erbe antreten, was ja auch bedeutet, eine Tradition anzunehmen? Und: Was gehört alles zum Nachlass?

Fünfzig Jahre nach dem Revoltenjahr 1968 wird über das Erbe der Achtundsechziger gestritten. Schnell tun sich alte Fronten auf. Die Achtundsechziger haben mit den autoritären Strukturen in Deutschland aufgeräumt, schwärmen die einen, und verlangen zugleich, alleine definieren zu dürfen, worum es damals ging: Nur ein Vater-Sohn-Konflikt soll 1968 gewesen sein, ein Aufstand der Jungen gegen Ex-Nazis, die mit ihrem Schweigen, ihrer Gefühlskälte, ihrer Kultur des Verbots den gesellschaftlichen Wandel blockierten.

Die anderen poltern, 1968 sei der Anfang vom Ende gewesen, gesellschaftliche Verbindlichkeiten befänden sich seither im freien Fall, das Leitbild Kleinfamilie, das Christentum als gemeinsamer Nenner, das Heimatbewusstsein. Sie sind vielleicht selbst in dritter Ehe verheiratet, leben in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft, gehen nie in die Kirche oder arbeiten in globalisierten Firmen - doch das Erbe von 1968 schlagen sie rundherum aus.

Das alles klingt wie in den Jahren 1968 bis 1989, als im Kalten Krieg die Auseinandersetzungen zwischen links und rechts, progressiv und wertkonservativ lustvoll zelebriert wurden. Nur: Das Erbe des Jahres 1968 ist ein gemeinsames, und vor allem im Privaten ist es gar nicht so unversöhnlich, wie es den Anschein hat.

Die Historikerin Christina von Hodenberg hat an Hunderten zeithistorischer Interviews gezeigt, dass im Mittelpunkt vieler familiärer Auseinandersetzungen damals weniger die konkrete NS-Vergangenheit der eigenen Eltern als der Kampf um eine gelassenere Sexualmoral stand. Verhandelt wurden demnach zunächst moderate Fragen: ob vorehelicher Sex und Verhütung akzeptabel sind, ob geheiratet werden muss, wenn ein Kind kommt. Dinge also, von deren Liberalisierung heute längst Anhänger aller Parteien profitieren.

Die Alleinverdiener-Familie war kein Glücksversprechen mehr

Erst die Frauen- und Homosexuellenbewegungen, die 1968 ihren Ausgang nahmen, stellten weiterreichende Forderungen für das Zusammenleben. Plötzlich ging es nicht mehr um ein bequemeres, sondern um ein anderes privates Leben. Putz- und Sorgearbeiten sollten geteilt, Kinder gemeinschaftlich erzogen werden. Häusliche Gewalt wurde erstmals Thema. Medien mussten sich sagen lassen, welch veraltetes Frauenbild sie produzierten. Die Alleinverdiener-Ehe war nun kein Glücksversprechen mehr, sondern galt als Abhängigkeitsfalle. Und: War das 1968 so gefeierte Konstrukt der offenen Partnerbeziehung wirklich im Sinne einer freien weiblichen Sexualität? Warum sollten Schwule ihre Liebe nicht genauso offen ausleben wie Heterosexuelle?

Der Slogan der Patriarchatsfeinde lautete damals "Das Private ist politisch". Er ging bald unter in den öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Studierenden gegen den Vietnamkrieg oder die Universitätshierarchien. Es folgten Jahre des erbitterten Geschlechterkrieges, in denen oft kaum noch eine Verständigung zwischen Männern und Frauen möglich erschien. Das hat das hoffnungsvolle Potenzial dieses Slogans lange dunkel vernebelt.

Jetzt sprechen die legitimen Erben der Errungenschaften von 1968

Jetzt aber, zwei Generationen nach 1968, entfaltet der Satz seine emanzipatorische Wucht und steht gleichberechtigt neben den allgemeinpolitischen Erfolgen der Studentenbewegung. In den vergangenen Jahren war die Parole "Das Private ist politisch" noch vielfach missverstanden worden als "Alles Private ist öffentlich". Das hatte zu einem Bekenntniswahn des Intimen in sozialen Medien und anderswo geführt und ist politisch nur insofern, als dass so viel plauderhafte Unbefangenheit Datenschutzprobleme mit sich bringt.

Seit dem Beginn der "Me Too"-Aktionen im Herbst 2017 aber besinnen sich immer mehr Menschen auf den utopischen Gehalt der Forderung von einst: Macht und Gewalt sind politisch, und wenn sie ins private Leben hineinragen und dort systematisch Schaden anrichten, dann gehört das benannt, veröffentlicht, gestoppt.

Vorangetrieben wird diese Entwicklung nicht von Politikern, sondern von Künstlern, die es gewohnt sind, im Kleinen das große Ganze zu erkennen. Den Anfang machten US-Schauspielerinnen mit ihren Berichten sexueller Übergriffe hinter den Kulissen ihres Berufs. Und gerade hat der Schriftsteller Christian Kracht in einer bewegenden Rede erzählt, wie ein Erzieher ihn als Knaben misshandelt hatte und was das für seine persönliche und literarische Entwicklung bedeutet. Derweil reicht die New Yorker Met Opera nach Aussagen missbrauchter Mitarbeiter Klage gegen den Dirigenten James Levine ein.

Die jetzt reden, sprechen auch für andere Betroffene. Sie sind die legitimen Erben einer der besten Errungenschaften von 1968. Es ist die Erkenntnis, dass eine Macht nur besteht, solange alle an sie glauben. Gemeinsames Reden und Handeln kann die Verhältnisse demokratisieren - für Frauen und Männer gleichermaßen.

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