Süddeutsche Zeitung

Der Kanzler am Grab seines Vaters:Ehre für Fritz Schröder

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Wenn Gerhard Schröder heute im rumänischen Ceanu Mare zum ersten Mal vor das Grab seines Vaters tritt, dann gedenkt er eines Mannes, den er nie kennen lernte, an dem er sich nie abarbeiten konnte.

Von Götz Aly

Als Fritz Schröder am 4. Oktober 1944 tödlich getroffen zusammenbrach, war er gerade 32 Jahre alt geworden. Er hatte den Krieg an der Ostfront mitgemacht und den Rang eines Obergefreiten erreicht. Für einen Hilfsarbeiter, der sich auf Jahrmärkten durchgeschlagen hatte, war das nicht wenig.

Schröder galt als guter Kamerad, als zielstrebig und verlässlich. Niedergestreckt hatten ihn rumänische Soldaten in der Nähe der damals ungarischen, im Herzen Transsilvaniens gelegenen Stadt Kolozsvár -- heute Cluj, altösterreichisch Klausenburg genannt. Neben seiner Frau Erika und seiner Tochter Gunhild hinterließ der Tote den sechs Monate alten Säugling Gerhard.

Wenn Gerhard Schröder heute im rumänischen Ceanu Mare zum ersten Mal vor das vom Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes bereits 1978 lokali-sierte Grab seines Vaters tritt, dann gedenkt er eines Mannes, den er nie kennen lernte, an dem er sich nie abarbeiten konnte.

Er, der den SPD-Oberen in jahrelanger Nachpubertät auf die Nerven fiel, verdrängte den leiblichen Vater gründlich. Dafür gab es gute Gründe. Wer das Buch "Die Panzerschlachten in der Pußta im Oktober 1944" aufschlägt, findet darin die hohlen Sprüche vom "pflichtbewussten Einsatz für das Vaterland", an dem sich die "junge Soldatengeneration" der Bundeswehr orientieren möge. So dachte man 1960.

Erst vor gut drei Jahren begann der Kanzler, sich mit der biographischen Leerstelle zu beschäftigen. "Für mich", sagte Schröder der International Herald Tribune, "existierte der Vater eigentlich nicht." Aufgrund der erfolgreichen Nachforschungen seiner Schwester Gunhild erfuhr er nicht nur von dem Grab, sondern auch von drei DDR-Cousinen, den Töchtern von Fritzens Bruder Kurt, die ein Porträt von Schröders Vater verwahrten.

Heute steht das Stahlhelmfoto mit Reichsadler und Hakenkreuz auf dem Schreibtisch im Kanzleramt. In den Nachkriegsjahrzehnten hingen ähnliche Fotos in unzähligen Wohnstuben deutscher Kriegerwitwen.

Im Jahr 1944 stand Fritz Schröder auf verlorenem Posten. Eben noch hatten die Rumänen gemeinsam mit Deutschland gegen das bolschewistische Russland gekämpft, da wechselten sie im August 1944 die Seiten.

Mit nationalem Furor eroberten sie Nordtranssilvanien zurück, das ihnen Hitler und Mussolini 1940 genommen hatten. Hunderttausende Ungarn traten die Flucht an. Sie bezogen die Wohnungen von deportierten Juden.

Als Fritz Schröder am 4. Oktober 1944 Seite an Seite mit ungarischen Soldaten kämpfte und fiel, verhandelte eine ungarische Delegation bereits seit vier Tagen in Moskau über einen Separatfrieden. Am 6. Oktober stießen sowjetischen Panzerverbände in die Puszta vor.

Die Geheimverhandlungen in Moskau scheiterten, weil die deutsche Führung am 15. Oktober die rechtsradikal-sozialrevolutionären Pfeilkreuzler in Budapest an die Macht putschte. Damit verlängerte Hitler den längst verlorenen Krieg ins blutige Finale des aktiven Untergangs.

Im Jahr 2001 verhinderte der 11. September den geplanten Staatsbesuch Schröders in Rumänien und den schon damals vorgesehenen Abstecher zum Grab des Vaters. Der heutige Besuchstermin passt politisch besser. In diesem Jahr vertrat der Kanzler die Deutschen erstmals bei den Erinnerungsfeiern zum D-Day, die Republik Polen lud ihn ein, am Gedenken zum Warschauer Aufstand teilzunehmen und sogar zu sprechen.

Der Besuch am Grab des Vaters bildet nun das halbprivate Ende dieser Reihe geschichtspolitischer Aktionen. Schröder steht für den generationellen Wandel der Kanzlerschaften.

Während Helmut Schmidt als Offizier gedient hatte und die militärische Attitüde bis heute schätzt, erlebte der weiche Helmut Kohl als 14-Jähriger, wie sein Bruder Walter in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs als blutjunger Fallschirmjäger in den Tod getrieben wurde: "Ich komme nicht wieder", verabschiedet sich dieser im Herbst 1944.

Gerhard Schröder repräsentiert die Generation derjenigen, die sich in den europäischen Nachkriegsgesellschaften ohne Väter durchbeißen mussten. Das prägte ihn, machte ihn hart im Nehmen und doch seltsam schwankend. Die Lebensumstände beflügelten seinen Ehrgeiz.

Weil der Krieg die Reihen derer, die zwischen 1910 und 1925 geboren worden waren, gnadenlos gelichtet hatte, eröffneten sich der Folgegeneration in den sechziger und siebziger Jahren Chancen für einen heute unvorstellbar bequemen sozialen und materiellen Aufstieg.

Aufs geschichtliche Ganze gesehen, verdankt der deutsche Bundeskanzler seine Position dem Soldatentod der Väter. Zu den Gefallenen lassen sich noch diejenigen rechnen, die körperlich und geistig gebrochen aus Krieg und Gefangenschaft zu-rückkehrten, die Flucht und Vertreibung physisch oder psychisch nicht überstanden.

Das alles schuf Platz für die Generation der vaterlosen Gesellen. Sie trugen weder Verantwortung für das Geschehene noch die Lasten des Wiederaufbaus und der inneren Neuorientierung. Sie tendierten früh zur Toskana-Fraktion.

Doch blieb das Verhältnis zu den allenfalls schattenhaft präsenten Vätern vertrackt. Eben weil diese für "Führer, Volk und Vaterland" gefallen waren, starben sie nicht als Helden. Kollektiv gesehen waren sie Agenten, kleine Nutznießer, abenteuerlustige, bestenfalls gedankenlose Mitläufer des entfesselten Bösen.

Italien gedenkt der vielen Toten, die in den Kriegen der faschistischen Diktatur starben, unter der Oberzeile "Caduto per la patria" und stellt die Namen der vergleichsweise wenigen Partisanen, die im Kampf gegen die deutschen Besatzer ihr Leben ließen, einfach daneben. Die fein differenzierte Überschrift lautet: "Caduto per la libertà".

Damit bleibt der generelle Respekt vor den Toten gewahrt und werden die Unterschiede doch deutlich akzentuiert. Die Marginalität des Widerstands, die Unfähigkeit der Deutschen zur Umkehr aus eigener Kraft und die Realität des nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungskrieges verbieten eine solche -- beneidenswert ausbalancierte -- Form des Erinnerns.

Während Fritz Schröder zunächst in der südlichen Sowjetunion, dann auf den Karpaten hinhaltenden Widerstand gegen die Rote Armee leistete, konnten aus Ungarn und aus dem vorübergehend wieder ungarischen Nordtranssilvanien mehr als 400.000 Juden nach Auschwitz verschleppt und dort zum großen Teil ermordet werden.

Wie der Sohn genau weiß, schuf erst die vollständige Niederlage der Generation Stahlhelm die Voraussetzungen für die Freiheit und das Glück der heutigen Deutschen. Doch so richtig ein derart gusseiserner Merksatz im Generellen sein mag, so wenig trägt er im Einzelfall. Der Tod eines Menschen verlangt Demut; er gebietet das Ende der Rechthaberei.

Das eigene Leid -- auch das selbstverschuldete -- muss erzählt und betrauert werden. Geschieht das nicht, verliert auch das, was die Deutschen anderen als Aggressoren zufügten, den ge-schichtlichen Bezug. Die Soldaten der deutschen Wehrmacht fielen weder für das Vaterland noch für die Freiheit -- und dennoch ist es human und richtig, dass Gerhard Schröder seinem Vater Fritz heute die Ehre erweist.

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Quelle:
SZ vom 12.8.2004
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