Das Verhältnis der islamischen zur westlichen Welt war in den vergangenen Jahrzehnten ambivalent. Der 11. September markierte sicherlich einen Wendepunkt in den Beziehungen beider Welten. Danach kamen der Afghanistan- und der Irakkrieg. Der israelisch-palästinensische Konflikt scheint kein Ende nehmen zu wollen, das Atomprogramm Irans hat die Gefahr eine militärischen Auseinandersetzung zwischen einem islamischen Land und "dem Westen" weiter vergrößert. Doch in keinem dieser Fälle handelt es sich nur um einen Konflikt zwischen dem Westen und der islamischen Welt beziehungsweise um eine religiöse Auseinandersetzung zwischen dem Islam und dem Christentum. Die Sache ist komplizierter.
In Europa leben inzwischen etwa 20 Millionen Muslime. Wenn wir von der westlichen Welt reden, dann schließt dies auch diese 20 Millionen Menschen ein, die inzwischen zu Europa gehören. Die Trennung zwischen islamischer und westlicher Welt ist daher irreführend. Sie suggeriert, dass es hierbei um eine kulturelle Spaltung zwischen zwei Wertesystemen geht.
Betrachtet man die realen Verhältnisse genauer, dann erkennt man schnell, dass politische und wirtschaftliche Interessen die Beziehungen zwischen islamischen und nichtislamischen Staaten prägen und keineswegs religiöse Zugehörigkeiten beziehungsweise Zugehörigkeiten zu bestimmten Wertesystemen. Schauen wir uns zum Beispiel den Salafismus an. Der 11. September ist von saudischen Salafisten verantwortet. Die Salafisten stellen in Europa eine große Gefahr für das friedliche Zusammenleben dar. Das salafistische Gedankengut wird aus Saudi-Arabien importiert.
Es geht um wirtschaftliche Interessen
Entsprechend müssten nun die Beziehungen zwischen der westlichen Welt und Saudi-Arabien konsequenterweise ziemlich gestört sein. Doch Saudi-Arabien gilt als einer der wichtigsten Verbündeten der westlichen Welt. Es geht eben um wirtschaftliche Interessen - ums Öl in diesem Fall. Dabei spielen weder religiöse Zugehörigkeiten noch Wertesysteme eine Rolle. Europa und Nordamerika nehmen sogar die Gefährdung ihrer nationalen Sicherheit in Kauf, um wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Jede Unterstützung westlicher Regierungen von Staaten wie Saudi-Arabien bedeutet eine Förderung vom Salafismus in den eigenen, westlichen Ländern. Während also viele westliche Staaten den Salafismus und Extremismus im eigenen Land bekämpfen, unterstützen sie dessen Quellen im Ausland.
Die Menschen in vielen islamischen, vor allem arabischen, Ländern leiden unter diktatorischen Regimen, die ebenfalls von westlichen Staaten unterstützt werden. Man darf nicht vergessen, dass Hosni Mubarak, wie zuvor auch Saddam Hussein, für viele Jahrzehnte als Präsident Ägyptens ein enger Verbündeter der westlichen Staaten war. Diese diktatorischen Herrscher haben über Jahrzehnte ihre eigenen Völker ausgebeutet und bekamen stets politische sowie militärische Rückendeckung westlicher Staaten.
Die Menschen in den islamischen Ländern durchschauen dies. Sie kaufen den Amerikanern beziehungsweise uns Europäern die Moralpredigten über Demokratie und Menschenrechte nicht mehr ab. Der Westen präsentiert sich in diesen Ländern nicht als Vorbild für Demokratie und Menschenrechte. Er erscheint als Vertreter der eigenen Interessen.
Und wenn genau in diesem Kontext Karikaturen oder ein Schmähvideo über den Propheten Mohammed veröffentlicht werden oder wenn der Papst öffentlich dem Islam kritisiert, dann sind dies Anlässe, um die aufgestaute Wut zu entladen. Und das machen sich gerade die Salafisten zunutze. Ihr eigentliches Interesse ist ein machtpolitisches. Sie sehnen sich nach einer Weltherrschaft, in der nur sie das Sagen haben. Dafür instrumentalisieren sie nicht nur den Islam, sondern auch Gott selbst, in dessen Namen sie zu sprechen vorgeben, von dem sie glauben zu wissen, dass er dem Westen den Krieg erklärt habe. Daher hetzen sie gegen den Westen und verleihen ihrer Hetze einen heiligen Charakter. Zugleich sind sie diktatorischen Regimen gegenüber, wie beispielsweise dem ehemaligen von Mubarak oder eben dem saudischen sehr loyal, denn hier greifen repressive Strukturen ineinander, die sich gegenseitig erhalten.
Man kann solche Spannungen nur dann verstehen, wenn man versucht, die Welt ganzheitlich zu betrachten. Salafisten reduzieren ihren Blick auf Benachteiligungen in den islamischen Ländern durch westliche Staaten, um daraus abzuleiten, dass es dem Westen lediglich um einen Kampf gegen den Islam selbst geht. Politische und wirtschaftliche Interessen werden hierbei völlig ausgeblendet. Die massive politische und militärische Unterstützung Saudi-Arabiens, Schoß des Salafismus, wird ebenfalls ausgeblendet. Und so erklären Salafisten dem Westen einen Krieg ebenso wie allem, was nicht Islam heißt.
Politische werden als religiöse Konflikte deklariert
Islamkritiker greifen diese Kampfansagen der Salafisten auf, um ihre These zu untermauern, es gehe hier um einen Kampf zwischen dem Islam und dem Westen. Die eigentlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen, die zu den Auseinandersetzungen und Benachteiligungen von Menschen in vielen islamischen Ländern führen, werden ebenfalls ausgeklammert oder verdrängt. Auf diese Weise werden politische Konflikte als religiöse deklariert, was sie jedoch keineswegs sind. Beide Diskurse, der salafistische und der islamkritische, greifen ineinander ein und unterstützen gegenseitig die Theologisierung politischer Konflikte. Das Heranziehen religiöser Argumente lässt all die politischen Konflikte als solche zwischen dem Islam und dem Christentum erscheinen.
Islam und Christentum stehen heute beide vor der Herausforderung, sich vor solcherlei Instrumentalisierungen zu schützen und sich zu fragen, welchen Beitrag sie zu einem friedlichen Miteinander leisten können. Liebe und Barmherzigkeit dazu zu verhelfen, gelebte und erfahrbare Wirklichkeit zu werden. Dadurch rücken Prinzipien wie die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, oder Verantwortlichkeit in den Mittelpunkt religiöser Praxis.
Der Islam wie auch das Christentum sind heute herausgefordert, diese Prinzipien stärker in ihr Selbstverständnis zu implementieren, denn die von religiösen Menschen angestrebte Gemeinschaft mit Gott wird nur durch die Arbeit des Menschen an seiner eigenen Vervollkommnung erreicht. Vollkommenheit heißt nicht fehlerfrei zu sein. Wohl aber einsichtig zu sein und aus seinen Fehlern zu lernen. Die Geschichte hat gezeigt, dass Religionen, die sich in dogmatischen Fragen verlieren, den Lebensbezug der Menschen verlieren. Dadurch werden sie anfälliger für Missbrauch, oder eben Opium für das Volk.
Mouhanad Khorchide, 41, wurde in Beirut geboren, ging in Saudi-Arabien zur Schule und studierte in Österreich Soziologie. Seit 2010 leitet er das Zentrum für Islamische Theologie in Münster, wo islamische Religionslehrer ausgebildet werden.