Der Fall Michail Chodorkowskij:Lassen Sie meinen Vater frei!

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Seit zehn Jahren sitzt Michail Chodorkowskij in Haft - zu Unrecht. Mit Putins Rückkehr in den Kreml endeten die illusorischen Hoffnungen, die der Westen in Dmitrij Medwedjew gesetzt hatte. Bei diesen Entwicklungen überrascht es nicht, dass sich viele ältere Russen sogar an die Stalin-Zeit erinnert fühlen.

von Pawel Chodorkowskij

Michail Chodorkowskij befindet sich seit 2003 aufgrund einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung in Haft. Hier ist er auf einem Archivbild aus dem Jahr 2005 zu sehen. (Foto: AFP)

Wenn sich an diesem Freitag die deutsche und die russische Regierung zu ihren jährlichen Konsultationen treffen, hat für meinen Vater, Michail Chodorkowskij, gerade das zehnte Jahr im Gefängnis begonnen. Am 25. Oktober wurde er aufgrund einer erfundenen, politisch motivierten Anklage verhaftet und seines Besitzes beraubt - dieser Tag markiert den Beginn von Wladimir Putins Kreuzzug gegen Kritiker, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und demokratische Werte. Die andauernde Inhaftierung meines Vaters und die Zerstörung seines Unternehmens schaden Russland, politisch und ökonomisch.

Ob und wann er wieder freikommt? Das hängt von Russlands gegenwärtigem politischem Klima ab - und von den Beziehungen des Landes zum Westen.

Vor diesem Hintergrund war es für mich als Exil-Russe interessant, die lebhafte Debatte in Deutschland darüber zu beobachten, wie viel Kritik an Russland in den so oft gepriesenen deutsch-russischen Beziehungen angemessen ist. Anscheinend nicht sehr viel, wenn es nach der russischen Regierung geht. Sie erklärte den Russlandbeauftragten der deutschen Bundesregierung, Andreas Schockenhoff, zur Persona non grata, seine Kritik am Pussy-Riot-Verfahren sowie an der russischen Syrien-Politik als "verleumderisch".

Auch einige deutsche Außenpolitiker wiesen darauf hin, Russland dürfe nicht verärgert werden, da es zur Lösung globaler Probleme wie in Syrien und Iran gebraucht werde. Die Wirtschaftspolitiker führten an, wie wichtig Russland als Handelspartner sei, wie sehr angeblich Deutschland und Europa von russischen Energielieferungen abhängig seien.

Ältere Russen fühlen sich an Stalin-Zeit erinnert

Diese Argumente überzeugen vielleicht auf den ersten Blick. Sie rechtfertigen aber nicht, eine ehrliche Beurteilung der jüngsten politischen Entwicklungen in Russland im Keim zu ersticken.

Mit Putins Rückkehr in den Kreml endeten die illusorischen Hoffnungen, die der Westen in Dmitrij Medwedjew gesetzt hatte. Nun werden die Frauen von Pussy Riot für einen Protest, der allenfalls eine Ordnungswidrigkeit darstellt, für zwei Jahre in einem Arbeitslager weggesperrt. Einflussreiche Oppositionspolitiker wie Gennadi Gudkow werden aus der Duma geworfen. Beliebte und lautstarke Oppositionelle wie Alexej Nawalnyi und Sergej Udalzow werden strafrechtlich verfolgt. Und der Geheimdienst schreckt nicht davor zurück, Regimekritiker im Ausland zu entführen und "Geständnisse" zu erpressen.

Zur gleichen Zeit werden Nichtregierungsorganisationen durch ein Gesetz unter Druck gesetzt, das sie zwingt, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren, wenn sie finanzielle Unterstützung von ausländischen Institutionen erhalten. Zusätzlich wird die ohnehin stark begrenzte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Verschärfung des Hochverratsgesetzes sowie die neuen Möglichkeiten für Internet-Zensur weiter eingeschränkt.

Bei diesen Entwicklungen überrascht es nicht, dass sich viele ältere Russen sogar an die Stalin-Zeit erinnert fühlen. Es ist deshalb nicht nur angemessen, sondern notwendig, diese alarmierenden Entwicklungen mit klaren Worten zu benennen und zu kritisieren - als das, was sie sind: Merkmale eines autoritären Regimes mit diktatorischen Zügen.

Deutschland ist Russlands loyalster Verbündeter in der EU. Wenn hier keine kritische Debatte über Russland stattfindet, dann wird es sie nirgends geben. Eine Beziehung, die als Partnerschaft bezeichnet wird, muss konstruktive Kritik aushalten können. Wir sollten auch nicht blindlings dem Argument folgen, kritische Worte gefährdeten Deutschlands Handelschancen mit Russland. Die ökonomische Verflechtung der beiden Länder ist zu eng und die Abhängigkeit gegenseitig. Deutschland und Europa bleiben für Russland die attraktivsten Absatzmärkte.

Häufig wird die Kritik des Westens mit Verweis auf Putins Beliebtheit in Russland als bevormundend zurückgewiesen. Tatsächlich akzeptieren viele Russen Putin immer noch und wählen ihn und seine Partei, weil sie das Unbekannte fürchten. Doch statt diese Zustimmung konstruktiv zu nutzen, geht Putin unerbittlich gegen die Opposition vor, drangsaliert die Zivilgesellschaft, schüchtert mögliche Kritiker ein. Als Mitglied des Europarats hat sich Russland aber freiwillig der Europäischen Konvention für Menschenrechte verpflichtet. Es muss damit leben, an diesen Standards gemessen zu werden.

Kritik an den russischen Zuständen sollte jedoch nicht als Selbstzweck missverstanden werden. Bloße Worte bleiben hohl und nutzlos. Denn trotz ihrer dünnhäutigen Reaktionen hält die russische Führung mehr Kritik aus, als die meisten glauben - solange sie keine echten Konsequenzen fürchten muss. So helfen nur konkrete Taten den Bürgerrechtlern und Oppositionspolitikern in ihrem Streben nach mehr Demokratie.

Deswegen sollten die europäischen Regierungen nicht länger zögern, um Personen, die nachweislich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind, die Einreise in die EU zu verwehren. Und korrupte Beamte, die ihr illegales Geld waschen, indem sie es in europäische Unternehmen investieren, sollten in Europa strafrechtlich verfolgt werden.

Putin muss Versprechen einlösen

Mit solchen echten Sanktionen würde Europa dazu beitragen, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte in Russland umzusetzen sowie die ausufernde Korruption wirkungsvoll zu bekämpfen.

Letztendlich liegt es an Putin selbst, die westliche Kritik, über die er sich öffentlich aufregt, zum Schweigen zu bringen. Während seines Wahlkampfes hat er versprochen, für eine wirklich unabhängige Justiz zu sorgen, die Meinungs- und Pressefreiheit zu stärken und die Wirtschaft sowie die Verwaltung zu modernisieren. Jetzt muss er ein glaubhaftes Signal setzen, dass es ihm mit diesen Versprechen tatsächlich ernst ist.

Meine Familie und ich hoffen, dass ein solches Zeichen die Freilassung meines Vaters sein könnte. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass Putin plötzlich seine Liebe zur Rechtsstaatlichkeit entdeckt und die Justiz aus seinem Griff erlöst. Aber westliche Regierungen, anerkannte Friedensaktivisten wie Aung San Suu Kyi, Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International stimmen darin überein: die Freilassung meines Vaters wäre ein erster Schritt, Russlands internationales Ansehen zu erhöhen, seine Märkte für ausländische Investoren attraktiv zu machen und zu zeigen, dass es Russland ernst mit Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten meint. Vielleicht sind die deutsch-russischen Regierungskonsultationen der richtige Ort, um Putin diese Botschaft zu überbringen.

Herr Präsident, lassen Sie meinen Vater frei!

Pawel Chodorkowskij, 27, ist das älteste von vier Kindern des inhaftierten russischen Unternehmers und Politikers Michail Chodorkowskij. Er lebt in New York und leitet das Institute for Modern Russia.

Übersetzung: Christian Hanne.

© SZ vom 14.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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