Der Fall Leonarda:Eine alltägliche Abschiebung empört Frankreich

Der Fall Leonarda: Sie war gerade auf einem Schulausflug. Jetzt sitzt sie im Kosovo und schaut traurig. Die Abschiebung der 15-jährigen Leonarda sorgt für Empörung bei den Franzosen.

Sie war gerade auf einem Schulausflug. Jetzt sitzt sie im Kosovo und schaut traurig. Die Abschiebung der 15-jährigen Leonarda sorgt für Empörung bei den Franzosen.

(Foto: AFP)

Sie ist erst 15 Jahre alt und wurde abgeschoben - auch in Frankreich nichts Besonderes. Doch die Umstände der Abschiebung von Leonarda aus dem Kosovo treiben die Menschen auf die Straße.

Von Christian Wernicke, Paris

Es sind die Bilder, die François Hollande immer vermeiden wollte. Linke, meist junge und zutiefst entrüstete Bürger, die gegen seine sozialistische Regierung durch die Straßen von Paris marschieren. Sie schwenken die Europafahne, zitieren auf handgemalten Transparenten die magische Formel der Republik: "Liberté, Egalité, Fraternité" (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). 2000, vielleicht 3000 Gymnasiasten sind es, die am Donnerstag ihre Lycées verlassen, um "für unsere Schwester" zu demonstrieren: für Leonarda, das 15-jährige Roma-Mädchen aus Kosovo. Der französische Staat hatte sie vor wenigen Tagen außer Landes geschafft.

"Unmenschlichkeit" und "Schande"

Der Zorn der Gymnasiasten zielt auf Manuel Valls, den Innenminister und Rechtsaußen der Regierung. "Valls macht die Politik der Rechten im Namen der Linken", wettert Steven Nassiri, der Sprecher der Schülergewerkschaft FIDL. "Das ist nicht der Wandel, auf den wir nach der letzten Wahl gehofft hatten." Der Primaner mit den dunklen Locken und dem bunten Halstuch hat die Route vorgegeben: "Wir marschieren zum Innenministerium!" Valls Amtssitz ist nur einen Steinwurf vom Élysée-Palast entfernt.

Es sind nicht nur ein paar tausend Schüler, die sich nun empören. Der "Fall Leonarda" enerviert Frankreichs Linke insgesamt, bis tief in die Reihen der sozialistischen Parlamentsfraktion. PS-Abgeordnete sprechen offen von "Unmenschlichkeit" und von "Schande", der Sozialist und Parlamentspräsident Claude Bartolone bangt gar, die Linke könne "ihre Seele verlieren".

Da hat sich, nur 16 Monate nach dem grandiosen Wahltriumph im Mai vorigen Jahres, viel Enttäuschung aufgestaut. Nun entlädt sich der Frust: über die mit geballter Faust in der Tasche gebilligte Rentenreform, über den von Sparzwängen diktierten Haushalt, überhaupt über den "zu sozialdemokratischen" Kurs, den man bisher zähneknirschend mittrug.

Die Geschichte einer gewöhnlichen Abschiebung

"Leonarda" ist der Funke. Leonarda Dibrani war bis vorige Woche im ostfranzösischen Departement Doubs zur Schule gegangen, hatte Freunde, sprach fließend Französisch. Seit fast fünf Jahren lebte sie mit Eltern und fünf Geschwistern in Frankreich. Jetzt hockt sie in Kosovo, schaut traurig drein - und sagt im Fernsehen, wie gern sie zurück möchte nach Frankreich. "Dort habe ich mein Herz, meine Freunde, hier kenne ich doch niemanden."

Es war eine Abschiebung, wie sie tagtäglich passiert. Laut Statistik schafft Innenminister Valls - sieht man einmal vom Sonderfall der Roma aus Rumänien ab - ungefähr so viele Illegale außer Landes wie sein konservativer Vorgänger unter Präsident Nicolas Sarkozy. Ungefähr 18.000 Fälle waren es von Januar bis August dieses Jahres. Nur, genau diese Kontinuität ist Teil der Schwierigkeit, die die Sozialisten mit ihrem Innenminister Valls haben: Sie wollten das Land ja verändern, nicht weitermachen wie bisher.

"Hier kenne ich doch niemanden"

Das andere Problem ist, dass fast alles im Fall Leonarda nach Recht und Gesetz geschah. Die Familie Dibrani war im Januar 2009 illegal aus Kosovo eingereist, hatte vergeblich Asylanträge beantragt, mehrere Prozesse verloren. Seit dem 19. Juni lag bei den Dibranis das Schreiben von der Präfektur auf dem Tisch: der Ausweisungsbefehl. Seit September lebten Mutter und Kinder bereits allein; der Vater, bei einer Polizeikontrolle zufällig aufgegriffen, saß in einem Abschiebelager.

Am 8. Oktober wurde Vater Dibrani ausgewiesen, am 9. Oktober stand die Polizei bei der Familie vor der Tür. Doch Leonarda war nicht da. Das Mädchen hatte bei einer Freundin übernachtet, war frühmorgens mit ihrer Klasse in einen Bus gestiegen und zu einem Schulausflug aufgebrochen. Übers Handy erreichten die Beamten Leonarda und ihre Lehrerin: Die Pädagogin protestierte zwar, aber der Bus musste stoppen, Leonarda aussteigen - und landete noch am selben Tag in Kosovo.

Dass die Ordnungskräfte so weit gingen, Leonarda im Rahmen einer Schulveranstaltung und vor den Augen ihrer Klassenkameraden abzuholen, dieses Detail löst besondere Empörung aus. Sogar der Erziehungsminister protestierte.

Keiner traut sich: Heißes Eisen Asylpolitik

Premierminister Jean-Marc Ayrault spürt, wie sehr es in den eigenen Reihen gärt und ordnete ein interne Untersuchung an. Falls Fehler gemacht worden seien, so der Regierungschef, müsse Leonarda samt Familie zurückkommen dürfen. Das wiederum empört die (eher wenigen) Freunde von Innenminister Valls, die fürchten, eine solche Entscheidung sei "Wasser auf die Mühlen des Front National", der rechtsextremen Partei, die seit Monaten im Aufwind ist.

An eine wirkliche Lösung, eine Reform des Asyl- und Ausländergesetzes, mögen sich die Sozialisten nicht wagen. Nicht vor den Wahlen im Frühjahr 2014. Die einzige Verbesserung für Menschen wie Leonarda hatte ausgerechnet der umstrittene Minister Valls eingeführt: Per Verwaltungsanweisung verfügte er, dass Ausländer nach fünf Jahren Aufenthalt eventuell bleiben können. Den Dibranis fehlten für diese neue Chance also nur zweieinhalb Monate.

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