Der Fall Kevin:Stille Schreie nach Hilfe

Dem kleinen Kevin waren die Misshandlungen durch seinen drogensüchtigen Vater anzusehen, und doch wollte niemand sie erkennen. Oder etwas dagegen tun.

Ralf Wiegand

Für Karin Röpke, die Bremer Sozialsenatorin, sollte es ganz eng werden in diesen Tagen. Am Donnerstag wollten die Grünen im Parlament einen Misstrauensantrag gegen die SPD-Politikerin stellen, wegen Misswirtschaft in einem Bremer Krankenhaus, wobei 15 Millionen Euro Schaden entstanden sind. Als die CDU-Fraktion am Mittwochmorgen noch eine Probeabstimmung ansetzte, um zu prüfen, ob die Große Koalition dem Misstrauensantrag auch standhalten würde, hatte Karin Röpke ihren Rücktritt aber schon längst beschlossen. Aus einem ganz anderen Grund.

Stille Schreie nach Hilfe

Jeder konnte es wohl sehen, keiner wollte es wahrhaben: Hier wurde Kevin misshandelt.

(Foto: Foto: ddp)

Ein Kind war gestorben, Kevin, keine drei Jahre alt. Seine Leiche lag im Kühlschrank in der Küche von Bernd K. Das ist Kevins leiblicher Vater, bei ihm lebte Kevin, gegen ihn wurde Haftbefehl wegen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Totschlags erlassen, er ist in Untersuchungshaft. Aber verantwortlich für Kevin war Bernd K. nicht - die Vormundschaft lag seit Monaten beim Jugendamt. Gäbe es das, müsste man gegen den Staat einen Misstrauensantrag stellen: Kann er seine schwächsten Bürger, die misshandelten Kinder, nicht einmal dann schützen, wenn sie ihm bekannt sind?

Gröpelingen im Bremer Westen, das ist ein sogenannter Problemstadtteil. In goldenen Zeiten gaben die Werften und ein Stahlwerk den Leuten hier Arbeit. Aber dann starben die Werften, die Industrie zog sich zurück. Die Arbeitslosigkeit ist höher, es gibt mehr Alleinerziehende als irgendwo sonst in der Hansestadt. Auch Bernd K., 41, war alleinerziehend.

Was weiß man über den Mann? Er ist drogensüchtig, wie seine Lebensgefährtin auch. Sie starb im November 2005. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Bernd K., der schon wegen Körperverletzung vorbestraft ist. Aber sehr dringend scheint es nicht zu sein, die Akte des Falls liegt bei der Gerichtsmedizin, die ein Gutachten über den Tod der Frau erstellen soll. Der Verdacht gegen Bernd K. gehe ,,in die Richtung Körperverletzung mit Todesfolge'', sagt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Nachbarn aus der Kulmer Straße, einer gesichtslosen Häuserzeile, sagen, es sei hoch hergegangen im ersten Stock des Mietshauses, wo Familie K. wohnte. Einer sagt, der Vater sei ,,immer nur besoffen'' gewesen. Eine andere glaubt zu wissen, die hätten sich ,,dauernd gehauen'', aber Kevin sei ein ganz süßer Bengel gewesen. Ende 2005, nach dem Tod der Mutter, kommt er in ein Kinderheim, in das Hermann-Hildebrand-Haus in Oberneuland. Wenn Gröpelingen in Bremen ganz unten ist, dann ist Oberneuland ganz oben, es ist Bremens feinste Ecke. Dem Lions Club, der als Trägerverein für das Waisenhaus das Geld besorgt, gehört auch Jens Böhrnsen an, der Bürgermeister. Kevin ist in Sicherheit, denkt man.

Aber das Jugendamt, das nach dem Tod der Mutter die Vormundschaft für das Kind zugesprochen bekommt und damit die volle Verantwortung, will den Jungen seinem Vater zurückgeben. Der drogensüchtige Mann ist in einem Methadon-Programm, er ist vorbestraft und auf Bewährung draußen, hält sich aber offenbar gut. Er hat eine ,,günstige Sozialprognose'', heißt es bei den Behörden.

Im Hermann-Hildebrand-Haus sieht man das anders. Kevin ist schwächer und kleiner als andere Kinder. Man sieht ihm die Spuren von Misshandlungen an, findet alte Knochenbrüche. Das Waisenhaus wendet sich an den Trägerverein, da ist ja der Bürgermeister drin. So erfährt Jens Böhrnsen vom Schicksal des Kindes, zunächst in anonymer Form. Böhrnsen drängt darauf, Namen zu erfahren: Kevin. Der Bürgermeister reicht den Fall an das Sozialressort weiter, an Karin Röpke. Sie verspricht, sich zu kümmern. Heute fragt sich der Bürgermeister, ,,ob man mehr hätte tun können, ob das genug war, ob man öfter hätte nachfragen sollen''.

Kevin ist jetzt voll unter Aufsicht der Behörden. Sein Name ist dem Jugendamt ohnehin schon seit der Geburt bekannt; weil die Mutter gegenüber dem Säugling gewalttätig war, werden beide betreut. Deswegen bekommt der Vater Kevin ja auch zurück: Weil man die Mutter für diejenige hielt, die Kevin verletzte. Aber Zweifel bleiben. Die Familienrichterin, die dem Jugendamt die Vormundschaft gab, fragt immer wieder nach, ob es Kevin gut geht. Irgendwann erfüllt der Vater aber seine Auflagen nicht mehr. Das Jugendamt möchte mit ihm darüber sprechen, Kevin in eine Pflegefamilie zu geben. Bernd K. entzieht sich den Diskussionen, erscheint auch nicht zu Gerichtsterminen. Im Juli schaut sich ein Arzt das Kind an, danach kann sich niemand mehr daran erinnern, Kevin gesehen zu haben.

Laut Jugendamts-Leiter Jürgen Hartwig fällt am 18. September die Entscheidung, Kevin dem Vater wegzunehmen. Das Kindeswohl sei gefährdet. Weil es im Guten nicht geht, muss ein Gericht entscheiden. Am 2. Oktober ordnet das Jugendgericht an, Kevin abzuholen. Erst am 10. Oktober kommt das Jugendamt mit der Polizei. Es ist kurz nach sieben, als die Beamten an die Tür von Bernd K. klopfen. Niemand öffnet, die Polizei bricht die Tür auf, K. steht in der Wohnung, er zeigt zur Küche. Zum Kühlschrank. Wie lange Kevin da schon tot ist, Tage oder Wochen, ist noch unklar.

Die Schockwelle rollt. Der Jugendamtsleiter rechtfertigt sich, es sei von der Politik so gewollt, dass Kinder auch in Drogen-Familien zurückgehen. Die Sozialsenatorin Röpke spricht lange mit Bürgermeister Böhrnsen. Kollegen sehen sie immer wieder weinen. Sie entscheidet schnell, dass sie aufgibt. Böhrnsen akzeptiert sofort. Am Mittwoch sagt Röpke, ihr fehle ,,die Kraft, angesichts der Tragweite dieses Falles die Aufarbeitung der Geschehnisse zu betreiben''.

Es sind so viele Fragen. Wieso wussten Sozialbehörden und Jugendamt angeblich nichts von dem Ermittlungsverfahren gegen Bernd K. wegen des Todes von Kevins Mutter? Wieso konnten Monate vergehen, in denen kein Beamter Kevin zu Gesicht bekam? Hätte jemand Gefahr im Verzug geahnt - die Wohnung hätte auch ohne richterlichen Beschluss geöffnet und Kevin abgeholt werden können.

Der Bürgermeister, eine Senatorin, das Jugendamt, Familienrichter, Ärzte, Polizei, Waisenhaus - sie alle kannten Kevin. Einen Schutzengel hatte er nicht.

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