Der Fall Karl-Heinz Kurras:Prahlereien in der Waschküche

"Ein Lump weniger": Nach der Erschießung von Benno Ohnesorg wurden wichtige Zeugen ignoriert - nun melden sie sich erneut zu Wort.

Uwe Soukup und Hans Leyendecker

Am 2. Juni 1967 war Hans-Hermann B. acht Jahre alt, und was er durch das Küchenfenster sah, hat er nie vergessen: Auf den Hinterhof drängten Demonstranten, Polizisten stürmten hinterher, etwas abseits stand ein Mann im roten Hemd. Er war dem Kind aufgefallen, weil er dieses rote Hemd trug; er war groß und schlank und tat nichts Böses.

Der Fall Karl-Heinz Kurras: Das Passfoto aus dem SED-Mitgliedsausweis des Westberliner Polizeibeamten Karl Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss.

Das Passfoto aus dem SED-Mitgliedsausweis des Westberliner Polizeibeamten Karl Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss.

(Foto: Foto: AP)

Kurz darauf hörte Hans-Hermann einen Knall. Er sah, wie der Mann mit dem roten Hemd zusammenbrach und dann sah er einen anderen, etwa zwei Meter dahinter. Dieser Mann trug einen Anzug und hatte eine Pistole in der Hand. Das alles erkannte der Achtjährige. "Gleich, wo der Schuss gefallen ist, ist der Mann umgefallen", hat er zwei Tage später einer Polizistin gesagt. Der Mann in dem roten Hemd war Benno Ohnesorg, der Schütze war der Polizist Karl-Heinz Kurras, der jüngst als Agent der Stasi enttarnt worden ist.

Die Kriminalmeisterin schrieb damals ins Protokoll: "Hans-Hermann B. machte seine Angaben in recht kindlicher Form ... Es wurde der Eindruck gewonnen, dass er zwischenzeitlich aufgrund äußerer Einflüsse (Fernsehen, Zeitung, Unterhaltung mit Erwachsenen und Kindern) in keiner Weise in der Lage war, tatsächliches Geschehen wiederzugeben."

"Bist du wahnsinnig, hier zu schießen"

Als Kurras später wegen fahrlässiger Tötung der Prozess gemacht wurde, erzählte er eine ganz andere Geschichte als der Junge zuvor der Polizistin: Männer mit blitzenden Messern hätten ihn bedroht und niedergeschlagen. "Mach ihn fertig" habe einer gerufen. Da habe er einen Warnschuss abgegeben, der zweite Schuss habe sich unbeabsichtigt gelöst.

Das war gelogen. Eigentlich erzählen solch wilde Geschichten nur Kinder - nicht Polizisten. Aber damals, vor 42 Jahren, war alles anders. Beamte, die dabei gewesen waren und eine bessere Sicht auf den Tatort hatten als der Junge am Fenster, leugneten, die Szene gesehen zu haben oder konnten sich nicht erinnern.

"Bist du wahnsinnig, hier zu schießen", hat ein Polizist gerufen. Andere Beamte meinten, es habe keinen Grund gegeben zu schießen. Dennoch hat keiner von ihnen Kurras vor Gericht ernsthaft belastet - nicht einmal der Beamte, der das mit dem Wahnsinn gerufen hatte: Im Urteil steht, dieser war "durch den Knall" erschrocken und habe deshalb nicht mitbekommen, "ob Demonstranten oder andere Polizeibeamte" in der unmittelbaren Nähe von Kurras waren. Ungefähr zehn Beamte sind auf Fotos direkt nach dem Schuss am Tatort zu sehen. Waren sie alle blind, taub oder gab es eine Verschwörung des Schweigens?

Hat er sofort gezielt geschossen?

Hans-Hermann wurde als Zeuge nicht gehört. Was weiß schon ein Kind? Kurras wurde in zwei Instanzen aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Fragen bleiben: Warum wurde in der ersten Verhandlung ein Tonband des Süddeutschen Rundfunks vom Tatort nicht zugelassen? Darauf war eine Stimme zu hören, die rief: "Kurras, gleich nach hinten! Los! Schnell weg". Warum wurde in der zweiten Verhandlung nicht geklärt, wer gerufen hatte und warum? Auf dem Band ist nur ein Schuss zu hören. Kurras behauptete, es wären zwei gewesen. Hat er sofort gezielt geschossen?

Weggucker und Vertuscher

An diesem Dienstag jährt sich der Tod Ohnesorgs zum 42. Mal, und es wird nicht nur in Berlin darüber diskutiert, ob Kurras doch noch der Prozess wegen Mordverdachts gemacht werden kann, denn Mord verjährt nicht. Seine alte Aussage hat Hans-Hermann B., inzwischen 50 Jahre alt, im Tagesspiegel bekräftigt. Sie reicht nicht hin, um den Staatsanwalt auf den Plan zu rufen, aber der Junge blamierte zumindest die Weggucker und die Vertuscher.

Aber vielleicht gibt es doch Zeugen, die mehr wissen. Vielleicht hat sogar Kurras selbst damit geprahlt, wie es wirklich war. Vorige Woche im ZDF-Magazin "Frontal 21" war die gebürtige Tschechin Julia Vastag zu sehen, die über Kurras sprach. Was sie sagte, ging aber unter in der Rechthaberei über die Achtundsechziger und über die Schuldfrage: Die Hauswartsfrau Vastag war früher in Spandau Kurras' Nachbarin und hat manchmal mit dessen Frau Bettwäsche gemangelt.

"Ich bin ein guter Schütze"

Im ZDF erinnerte sie sich, wie Kurras angetrunken in der Waschküche geprahlt hatte, dass er Ohnesorg umgelegt habe. Er habe den für einen Chaoten gehalten, die Pistole genommen und "gezielt, abgedrückt. Auf seinen Hinterkopf habe ich gezielt und getroffen. Ich bin ein guter Schütze", soll er gesagt haben. Im Tagesspiegel hat Vastag dies vorige Woche wiederholt und ergänzt: "Ein Lump weniger", habe Kurras gesagt.

Nach dem 2. Juni machte Kurras Schlagzeilen, weil er betrunken eine Neunjährige küsste und festhielt. "Sittenskandal um Todesschützen Kurras" titelten Zeitungen, aber die Eltern des Mädchens zogen die Anzeige zurück. In einem anderen Fall, es ging um die zerbrochene Kamera eines Stern-Fotografen, soll Kurras die Hauswartsfrau mit vorgehaltener Waffe gezwungen haben, eine für ihn günstige Zeugenaussage zu unterschreiben.

Vor Gericht widerrief die Tschechin ihre erzwungene Aussage. Ein Polizeibeamter, der auch zunächst zu Kurras' Gunsten ausgesagt hatte, räumte dann ebenfalls ein, gelogen zu haben. Kurras beschimpfte den Kollegen.

Dieser 81 Jahre alte Ex-Polizist war und ist ein mitleidloser, autoritärer Typ. Vor ein paar Jahren hat der Schießfanatiker vor dem Mehrfamilienhaus, in dem er wohnt, einem Reporter gesagt, er hätte damals eigentlich schießen sollen, "dass die Fetzen geflogen" wären. "Nicht nur ein Mal; fünf, sechs Mal hätte ich hinhalten sollen. Wer mich angreift, wird vernichtet. Aus, Feierabend".

Vor so einem haben Eltern ihre Kinder immer gewarnt. Sicherlich auch die Eltern von Hans-Hermann B.

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