Der Deutsche Herbst - Tag 35:"Rettet das Leben eines Unschuldigen"

Arbeitgeberpräsident Schleyer befindet sich weiterhin in der Hand der RAF. Seine Frau Waltrude fleht die Bundesregierung an, ihn zu befreien - doch die will sich nicht erpressen lassen. Die inhaftierten Terroristen Ensslin, Raspe und Möller drohen daraufhin mit Selbstmord.

Robert Probst

Die Ehefrau des entführten Arbeitgeberpräsidenten, Waltrude Schleyer, appelliert in der Bild am Sonntag erneut an die politisch Verantwortlichen in Bonn: "Die Nachricht meines Mannes vom 6.10.77 veranlaßt mich, nochmals mit aller Eindringlichkeit auf seinen gegenwärtigen Zustand aufmerksam zu machen, der in seiner Unerträglichkeit für die unmittelbar Betroffenen, die auch von ihm gewünschte Entscheidung nunmehr erforderlich macht. ... Versäumnisse der Vergangenheit können nicht durch den Hinweis auf die das Opfer eines einzelnen verlangende Staatsräson ungeschehen gemacht werden." Die Schlagzeile lautet: "Rettet das Leben eines Unschuldigen!"

Die Familie setzt im Gegensatz zur Bundesregierung alles daran, den 62-Jährigen aus der Hand der Terroristen zu befreien. Der Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz, Joachim Zahn, lässt den Krisenstab wissen, dass der Konzern jede Lösegeldsumme aufbringen würde; Schleyer ist Vorstandsmitglied.

Auch Kollegen und Freunde, wie der Industrielle Eberhard von Brauchitsch, setzen sich persönlich für den Arbeitgeberpräsidenten ein. Kanzler Helmut Schmidt soll darauf stets geantwortet haben: "Wollen Sie, dass das Konzept der Terroristen aufgeht? Oder wollen Sie, dass hier das Gegenteil demonstriert wird?"

Jedoch berichtete der damalige Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski später, die Regierung habe es Brauchitsch freigestellt, Schleyer freizukaufen. Der Manager des Flick-Konzerns soll daraufhin gefragt haben, ob er das Lösegeld von der Steuer absetzen könne.

Helmut Kohl, damals Oppositionsführer im Bundestag, schreibt in seinen Memoiren, wie sehr "mir das Leid meines Freundes Hanns Martin und seiner Familie unter die Haut ging und die schlaflosesten Nächte meines Lebens bereitete". Er habe sich immer wieder gefragt: "Durften wir gegenüber der Familie Schleyer eine solche unerbittliche Position einnehmen?"

Kohl vertritt dennoch wie alle anderen im Krisenstab die harte Haltung, dass sich der Staat nicht erpressen lassen dürfe. "Meine Versuche, bei der Familie Schleyer um Verständnis zu werben, scheiterten."

In Stuttgart-Stammheim wünschen die RAF-Terroristen Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller einen BKA-Beamten zu sprechen. Nacheinander geben die drei eine Erklärung ab. Sie fordern umgehend eine Entscheidung der Bundesregierung im Entführungsfall. Ansonsten, betont etwa Ensslin, werde man Kanzler Schmidt "die Entscheidung aus der Hand nehmen".

Der Beamte informiert umgehend BKA-Präsident Horst Herold von den Selbstmorddrohungen. Bei Ensslin sei "die Ernsthaftigkeit dieser Ankündigung nicht auszuschließen. Bei den Mitgefangenen ist die Realisierung weniger wahrscheinlich - zumal als Alternative zur Freilassung." Erneut bestätigt der Beamte, dass sich die Häftlinge im siebten Stock tagsüber durch Zuruf durch die Zellentüren verständigen können.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: