Süddeutsche Zeitung

Deportation von britischen Kindern:Die vergessenen Australier

Bis in die sechziger Jahre deportierte Großbritannien arme Kinder nach Australien, wo diese häufig misshandelt wurden. Nun wollen sich beide Länder erstmals offiziell entschuldigen.

W. Koydl

Für manche war es fast so schlimm wie der Tod am Galgen, und tatsächlich war sie jahrzehntelang eine der schwersten Strafen im Arsenal britischer Richter: Schon für verhältnismäßig kleine Vergehen konnten Kriminelle nach Australien deportiert werden. Diese sogenannte transportation wurde 1868 abgeschafft, aber eine Abart der Zwangsverschickung dauerte an bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts: Tausende britische Kinder aus benachteiligten und armen Familien wurden von Amts wegen ihren Eltern weggenommen und nach Australien geschickt.

Doch das versprochene bessere Leben fanden die meisten von ihnen dort nicht vor. Stattdessen wurden sie häufig körperlich, seelisch und sexuell misshandelt und zu schweren Farmarbeiten herangezogen.

Auf die andere Seite des Globus verschickt

Nun wollen sich erstmals die Regierungen in Canberra und London offiziell für den Skandal entschuldigen, wobei sich Premier Gordon Brown nach Angaben der BBC Zeit lassen will bis zum nächsten Jahr. In einem Brief an den Gesundheitsausschuss des Parlaments hat er zwar eingestanden, dass "jetzt die richtige Zeit" für eine Entschuldigung sei. Brown bat jedoch um weitere Informationen. Australiens Regierungschef Kevin Rudd hingegen wird schon an diesem Montag eine Entschuldigung an die "Vergessenen Australier" aussprechen.

Dazu gehören neben einer halben Million Kindern, die zwischen 1930 und 1970 in Waisenhäusern und Kinderheimen misshandelt wurden, auch jene 7000 britischen Jungen und Mädchen, die gegen den Willen und meist ohne das Wissen ihrer Eltern auf die andere Seite des Globus verschickt worden waren. Die jüngsten dieser Kinder waren drei Jahre alt.

Sandra Anker war eine dieser Deportierten. Sie war sechs Jahre alt, als sie im Jahr 1950 in England ein Schiff bestieg, von dem sie glaubte, dass es sie zu einem Abenteueraufenthalt nach Afrika bringen würde. Stattdessen endete sie in Melbourne, wo sie in ein Waisenhaus gesteckt wurde. "Jahrelang habe ich gewartet, ob endlich jemandem auffallen würde, dass ein Fehler gemacht worden war", erklärte sie nun unter Tränen in einem Interview mit der BBC. "Jahrelang habe ich gewartet, dass endlich jemand kommen würde und mich wieder abholt und nach Hause bringt."

Jahre absoluten Elends

Doch niemand kam, und heute nennt Sandra Anker die Zwangsverschickung "eines der Verbrechen des Jahrhunderts. Es war furchtbar, es waren Jahre und Jahre absoluten Elends".

In vielen Fällen hatte man den Eltern der verschickten Kinder vorgelogen, dass ihre Jungen und Mädchen von wohlsituierten Mittelklassefamilien in England adoptiert worden seien. Den Kindern hatte man mitgeteilt, dass ihre Eltern gestorben seien. Die beteiligten Behörden, die mit karitativen Einrichtungen zusammenarbeiteten, unternahmen alles Menschenmögliche, um zu verhindern, dass Kinder und Eltern einander wiederfinden könnten. Dazu gehörte die Praxis, Geschwister bei der Ankunft in Australien voneinander zu trennen.

Die Kinder-Deportationen kamen sowohl den britischen wie den australischen Regierungen jener Zeit gelegen. London entledigte sich kostspieliger Sozialfälle, Canberra importierte problemlose neue Immigranten.

"Das Kind ist der beste Einwanderer", lautete damals ein populärer australischer Slogan. Bei den Kindern aus Britannien, so hieß es, handele es sich um "guten weißen Bestand".

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SZ vom 16.11.2009/sonn/jobr/sonn
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