Denken im Licht des künftigen Anschlags:Die Wahrheit der Folter

Muss sich die freiheitliche Demokratie ihrer radikalsten Feinde manchmal mit schärfsten Mitteln erwehren? Wer dafür plädiert, die Folter nicht von vornherein zu tabuisieren, macht sich zum Herrn über Leben, Tod und Schmerz. Dabei könnte die Stärke eines Rechtsstaats darin bestehen, bestimmte Methoden zu seiner Verteidigung kategorisch abzulehnen.

Von Ulrich Raulff

In der jüngsten Debatte über die Folter hat sich ein schöner, männlicher Ton erhoben. Er rät dazu, die Dinge mit kühlem Kopf abzuwägen und zu erörtern.

Wir tun gut daran, heißt es, unsere Prinzipien zu befragen, bevor ein Anschlag, bevor die Hysterie nach einem Blutbad uns dazu zwingt.

Lasst uns über unsere Prinzipien nachdenken und über mögliche Ausnahmen, welche die terroristisch verschärfte Lage uns aufzwingen könnte; lasst uns die neue Situation rational erörtern.

Die Folter, das Recht, die liberale Demokratie und ihre Feinde: Lasst uns über all diese Dinge reden, solange wir besonnen sind. Solange das Namenlose noch nicht eingetreten ist.

Wir denken im Licht des künftigen Anschlags. Zitternd balanciert das Gebot der Rationalität auf dem Zeigefinger der Eschatologie. Die Lage, so will es scheinen, zwingt uns, die Grenzen des Diskurses neu zu vermessen: Aus der hypermoralischen Empörung über das moralische Versagen der Amerikaner im Irak versuchen einige den kühlen Ausbruch.

Aus dem Echoraum der Geschichte fällt ihnen dabei ein Argument zu, das man kennt. Es ist das Argument der relativen Wehrlosigkeit der liberalen Demokratien. Es kann nicht Tabu sein, lesen wir in der FAS vom 16.Mai, darüber nachzudenken, "ob die freiheitliche Demokratie mitunter zu scharfen Mitteln greifen muss, um sich ihrer radikalsten Feinde zu erwehren".

Und hier, in dieser Zeitung, kam gestern die Sorge zum Ausdruck, "wie schwer es Demokratien damit haben, ihre Verfassung mit verfassungsgemäßen Mitteln zu verteidigen. Was Diktaturen leicht fällt, Demokratien aber zerrütten kann, ist der Einsatz aller Maßnahmen gegen ihre Feinde."

Kein Wort davon, dass die Stärke eines Rechtsstaats (warum redet man eigentlich immer von liberalen Demokratien, wenn man Eier mit dünner Schale meint?) - dass seine Stärke darin bestehen könnte, bestimmte Methoden zu seiner Verteidigung kategorisch abzulehnen.

Kein Gedanke daran, dass die Verteidigung mit "schärferen Mitteln" oder gar "allen Maßnahmen" identisch sein könnte mit seiner Zerstörung:

Abgründige Bosheit moralischer Entsicherungskasuistik

Wer solche Verteidiger hat, braucht für seine Zerstörung nicht zu sorgen. Stattdessen werden Szenarien an die Wand gepinselt, wie man sie aus der jüngsten politischen und rechtsphilosophischen Literatur Amerikas kennt: Wie würden Sie entscheiden, wenn?

Wenn beispielsweise die Folterung eines Gefangenen diesem das Geheimnis eines geplanten Massakers entreißen könnte? Wie würden Sie entscheiden, soll Niklas Luhmann einmal gefragt haben, wenn sich ein nukleares Terrorattentat durch Folter verhindern ließe?

Ach, Luhmann, er ruhe sanft. Wozu die abgründige Bosheit dieser moralischen Entsicherungskasuistik mit seinem Namen verbinden? Genügt nicht die Erinnerung an Legionen von Prüfungskommissionen, die jugendliche Kriegsdienstverweigerer mit Fragen dieser Art traktierten: Was würden Sie tun, wenn ein Rotarmist vor Ihren Augen Ihre kleine Schwester vergewaltigte?

So wie man damals die Vermeintlichkeit des Pazifismus vermeintlicher Pazifisten entlarvte, so meint man jetzt, die Gratismoral von existentiell ungeprüften Demokraten entlarven zu können.

Die Wahrheit der Folter

So wie man damals unwillige Rekruten in den Konjunktiv einer moralischen Ausnahmesitutation lockte, so lockt man jetzt ganze Bevölkerungen in die Diskussion über "schärfere Mittel" und "alle Maßnahmen" angesichts der unerhört verschärften Lage, in der wir angeblich stehen.

Es mag ja dem Menschen schmeichelhaft erscheinen, sich derart in Gefahr zu sehen. Es gibt eine Romantik der Verschärfung, die gerade jetzt wieder um sich greift.

Aber die Hybris, die uns einflüstert, wir stünden in einer historisch nie da gewesenen Gefahrensituation, entspringt dunkleren Quellen. Sie entstammt einer Definitionsmacht, die den Ausnahmezustand beschwört, weil sie sich mit Kleinigkeiten im Rechtssystem nicht mehr zufrieden gibt: Sie will Anthropologie und Rechtsprinzipien in neue Relationen setzen.

"Wir denken die Rechtsbegriffe um", schrieb Carl Schmitt 1934, "wir sind auf der Seite der kommenden Dinge." Auch jetzt sind es wieder die kommenden Dinge, in deren Namen die Rechtsbegriffe umgedacht werden sollen.

Dabei geht es nicht um die praktische Herrschaft über Leben und Tod. Insofern ist die Debatte über die Folter weder mit der Kasuistik des "finalen Rettungsschusses" noch mit der Diskussion über die Todesstrafe zu vergleichen.

Die Diskussion über die Folter bezieht ihre prekäre Legitimation aus dem Wahrheitsmechanismus, der mit der Folter verbunden sein soll: Niemand, der sich für "robuste Verhörmethoden" ausspricht, wird zugeben, dass die Folter ein System ist, das immer nur sich selbst hervorbringt, Qual um der bloßen Qual willen. Auch die jetzt einsetzende Diskussion muss an der "Wahrheitstüchtigkeit" der Folter festhalten.

Wer bereit ist, die Folter zu denken, lässt sich auf einige der ältesten Gleichheitsrechnungen der menschlichen Natur ein. Er unterstellt, dass es Beziehungen zwischen der Wahrheit, der Sprache und dem Schmerz gibt, die vielleicht einer Neuregelung fähig und bedürftig, insgesamt aber nicht aberwitzig sind.

Glaube an das Wahrheitsvermögen des Schmerzes

Wer bereit ist, die Folter zu denken, macht sich nicht nur zum Herrn über Leben und Tod, er macht sich auch zum Herrn über den Schmerz. Wer die Folter denkt, glaubt an die Wahrheit und an das Wahrheitsvermögen des Schmerzes.

Das muss sich klarmachen, wer jetzt dafür plädiert, die Folter nicht von vornherein zu tabuisieren. Gewiss, man kann über alles kühlen Verstandes diskutieren, auch über den Wissensgewinn durch die Folter und den Abschreckungswert der Todesstrafe.

Darüber lassen sich sehr rationale Reden führen. Und doch gibt es Dinge, die dem Diskurs entzogen sind, gleichgültig ob man sie Tabus nennt oder Werte.

Erst die Tatsache, dass sie dem vernünftigen Diskurs entzogen sind und bleiben, begründet diesen. Sie begründet ihn nicht als zweckrationalen und als schmerz- oder straftechnischen, sie begründet ihn als vernünftigen Diskurs. Wenn wir jetzt anfangen, vernünftige Reden über die Folter zu führen, ist das der sicherste Beweis dafür, dass wir verrückt geworden sind.

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