Demoskopie:Umfragen sind nur ein Schnappschuss der Gegenwart

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Bundeskanzlerin Angela Merkel im Plenarsaal des Bundestages (Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Aufgenommen mit einer Linse, die sich nie ganz scharf stellen lässt. Vor welchen Problemen die Meinungsforscher im Bundestagswahljahr stehen.

Von Katharina Brunner

Die politische Großwetterlage ist wolkig bis trüb. Donald Trump ist Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Marine Le Pen stellt sich der Stichwahl um die französische Präsidentschaft. Großbritannien tritt aus der EU aus. Und Deutschland steht ein intensives Wahlkampfjahr bevor, das durch die Kanzlerkandidatur von Martin Schulz noch um ein paar Turbulenzen bereichert werden könnte.

Im Vorfeld der Wahlen spielen Umfragen eine bedeutende Rolle: Sie spiegeln Erwartungen und Meinungen; und erlauben einen vermeintlichen Blick in die Zukunft. Die Süddeutsche Zeitung versucht sich deshalb in den kommenden Monaten an einer neuen Form, Umfragen zu visualisieren. Das Ziel ist, die Unsicherheit, die mit den Zahlen einhergeht, auf den ersten Blick deutlich zu machen. Mehr Informationen zu unserer Vorgehensweise finden Sie hier.

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Umfragen sind keine Prognosen

Meinungsumfragen sind keine Vorhersagen, sondern lediglich Momentaufnahmen mit einer Haltbarkeit von höchstens ein paar Tagen. Um bei der Metereologie zu bleiben: Wenn es heute 22 Grad Celsius hat, dann lässt das kaum Rückschlüsse auf das Wetter in ein paar Monaten zu. Doch es ist recht wahrscheinlich, dass auch der nächste Tag warm sein wird. Ähnlich ist es mit Umfragen: "Je näher die Wahl rückt, desto stärker ihre Prognosekraft", sagt Andreas Graefe von der Macromedia-Hochschule in München. Steht eine Wahl in ein paar Tagen an, haben sich viele schon entschieden. Umfragen sind wie das Thermometer, ein Instrument also, um das Wetter zu messen. Aber sie sind nicht die exakte Wettervorhersage. Und die Institute sind die Wetterstationen der öffentlichen Meinung.

Politikwissenschaftler Graefe erging es wie vielen anderen nach der US-Wahl: Seine Prognose war nicht korrekt. Zusammen mit Kollegen entwickelte er Pollyvote, ein Modell, mit dem er den Ausgang der Präsidentenwahl vorraussagen wollte. Er setzte - wie die allermeisten anderen - auf einen Sieg von Hillary Clinton, der zur Überraschung vieler ausblieb.

Schuld an dieser falschen Erwartungshaltung waren auch Journalisten wie bei Fivethirtyeight, The Upshot oder Huffington Post: Zu 70, 80, gar 90 Prozent sicher, hieß es, sei die USA vor einem Präsidenten Trump. Was soll denn da bitte schön noch schiefgehen?

Eine ganze Menge. Denn es war dem Publikum kaum zu vermitteln, dass ihre Vorhersagen Wahrscheinlichkeiten waren, die wiederum auf Simulationen basierten, die sich aus den jeweils aktuellsten Schnappschüssen der politischen Stimmung ergaben. Das Problem liegt am mathematischen Konzept von Wahrscheinlichkeiten. Andreas Graefe weiß aus der Forschung: "Menschen haben Probleme im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten: Sie verstehen null Prozent, es passiert auf keinen Fall; und 100 Prozent, es passiert auf jeden Fall. Alles dazwischen ist irgendwie wahrscheinlich."

Dazu kommt die Psychologie. Wähler sind nicht unabhängig in ihrer Wahrnehmung. Die meisten Menschen halten das für wahrscheinlicher, das besser zu ihrer Weltanschauung passt. Psychologen nennen das Confirmation Bias. Wer zu Clinton hielt, rundete im Kopf schnell die 80 Prozent auf 100 auf. Und wer Trump gewinnen sehen wollte, konnte sich mit der Siegchance beruhigen. Eine 80-Prozent-Siegchance bedeutet eine Quote von 4:1. Zum Vergleich: Beim Würfeln eine Eins zu bekommen hat die Quote 1:5.

Vielleicht haben deshalb viele großzügig übersehen, wie knapp die Umfragen beim Brexit-Referendum und der US-Wahl im Vorfeld tatsächlich waren. Zwar sahen in Großbritannien fast alle Umfragen direkt vor der Abstimmung "Remain" vorn, also den Verbleib in der EU. Dieser Vorteil war aber so klein, dass ein Sieg der "Leave"-Fraktion innerhalb der Fehlertoleranz lag, also beinahe genauso wahrscheinlich war wie ein Sieg von "Remain". Umfragen geben streng genommen keinen einzelnen Wert an, sondern eine Spanne, in denen das Ergebnis einer Partei höchstwahrscheinlich liegt. "Wie eine Kamera, die man nie ganz scharf stellen kann", sagt Thomas Petersen vom Allensbach-Institut.

Umfragen und die Weisheit der Wenigen

In Zeiten, in denen Big Data langsam zum Standardvokabular gehört, wirkt die Methodik von Meinungsumfragen fast wie aus der Zeit gefallen. Sie arbeiten nicht mit riesigen Datenmengen oder der Weisheit der Vielen, sondern mit der präzisen Auswahl.

In Deutschland funktioniert das in der Regel so: Demoskopen zeichnen aus den Antworten von 1000 bis 2500 Befragten ein Bild der politischen Landschaft. Das sind deutlich weniger als 0,01 Prozent der ungefähr 60 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland. "Umfragen zu erstellen, ist eine extrem schwierige Aufgabe", sagt Politikwissenschaftler Graefe. Nicht nur in den USA, auch in Deutschland ging das immer mal wieder daneben. Der Spiegel schrieb nach der Wahl 2005 von einem "Desaster für Demoskopen", einem "weiteren Tiefschlag für eine Branche". Alle großen Umfrageinstitute sahen damals die CDU/CSU bei etwa 40 Prozent, sie bekam aber tatsächlich nur 35,2 Prozent. 2013 war das anders, die Umfragen lagen knapp vor der Wahl erstaunlich richtig. "Das war ein richtig gutes Jahr für die Meinungsforscher", sagt Graefe.

Die Institute halten sich an mathematische Vorgaben, um aus einem kleinen Kreis an Menschen Rückschlüsse auf Millionen ziehen zu können. Das Zauberwort lautet Zufall. Nur wenn jeder Wahlberechtigte die gleiche Chance hat, von den Instituten kontaktiert und nach seiner Meinung gefragt zu werden, ergibt die Arbeitsweise der Demoskopie Sinn. Sie stellt sicher, dass die Belegschaft mit den Ergebnissen - "CDU", "SPD", "CSU", "AfD", "Die Grünen", "Linke", "FDP", "Sonstige" - Hochrechnungen anstellen kann.

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Der Zufall wird simuliert, indem zum Beispiel eine Software aus Listen von Telefonnummern die letzten zwei oder drei Ziffern würfelt. Die Callcenter-Mitarbeiter fragen die wahlberechtigte Person im Haushalt, die als letztes Geburtstag hatte: "Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?" Theoretisch müssten die Befragten dann die gleichen Eigenschaften haben wie die Wahlberechtigten: Die gleiche Verteilung von Männern und Frauen, jungen und alten Menschen, mit Studium oder Ausbildung, aus der Stadt oder vom Land.

Doch die Wirklichkeit stimmt nur selten mit den idealisierten Annahmen eines Statistik-Lehrbuchs überein. Manche Gruppen sind zu stark vertreten, manche zu wenig. "Ältere Frauen über 60 Jahren sind so ein Problemfall. Sie sind zu selten zu erreichen oder wollen nicht mitmachen", sagt Stefanie Haas. Sie arbeitete als Projektleiterin bei Infratest Dimap, jetzt als Wissenschaftlerin an der Universität Freiburg. Auch Leute ohne Festnetzanschluss bleiben außen vor. Das trifft vor allem auf junge Menschen zu. Infratest Dimap ruft deshalb inzwischen zu 30 Prozent Mobilfunknummern an - die anderen Institute allerdings nicht. Das Unternehmen INSA, das erst seit 2009 in der Branche ist, arbeitet mit Online-Befragungen.

Die Demoskopen stellen deshalb Berechnungen an. Wenn sie vermuten, dass eine bestimmte Wählergruppe in der Bevölkerung stärker vertreten ist als im Datensatz der Umfrage, gewichten sie die Antworten aus jener Gruppe besonders stark, um den Mangel auszugleichen.

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Ganz falsch ist es deshalb nicht, wenn Kritiker sagen, die Institute würden ihre Ergebnisse manipulieren. Richtiger wäre es jedoch, von einem Rezept zu sprechen. Es ist wie bei einer Cola: Alle Inhaltsstoffe stehen auf jeder Dose, doch ihr jeweiliger Anteil bleibt Geschäftsgeheimnis.

Um welchen Faktor erhöhen die Institute die Gewichtung der Antwort einer Frau über 60? Um welchen die des jungen Mannes ohne Studium vom Land? Wie umgehen mit Nichtwählern? Fließen Erfahrungswerte ein? Wie sehr solche Annahmen Ergebnisse ändern können, zeigte ein Experiment der New York Times. Sie gab mehreren Umfrageorganisationen denselben Satz von Rohdaten, mit dem die Institute ihre jeweiligen Rechenmodelle fütterten. Was die Times an Werten zurückbekam, unterschied sich zum Teil deutlich.

Meinungsumfragen werden umso besser, je mehr Menschen sie einbeziehen. Deshalb ist es für Meinungsforscher ein großes Problem, wenn die Mehrheit der Angefragten nicht mitmachen will. Ablehnungsquoten über 50 Prozent sind keine Seltenheit. Die Gründe sind vielfältig: Datenschutz, keine Zeit, generelle Ablehnung von Anrufen aus Call-Centern. "Die Antwortbereitschaft ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte stark gesunken", sagte der Soziologe Andreas Diekmann im SZ-Interview nach der Wahl in Sachsen-Anhalt im Frühjahr 2016, als die Umfragen stark unterschätzten, wie gut die AfD abschneiden würde. Bei kleinen Parteien können schon ein paar Dutzend Befragte entscheidend für die eine oder andere Richtung sein.

Andere antworten auch aus politischen Gründen nicht: Anhängern von Rechtspopulisten wird nachgesagt, sie würden überdurchschnittlich häufig eine Teilnahme ablehnen. Das könnten Eingeschüchterte sein, sagt Petersen von Allensbach, das als einziges der großen Institute persönliche Vor-Ort-Interviews führt. "Schweigespirale" nannte das die Gründerin des Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann: Lieber keine Antwort als eine, die sozial isoliert. Sieht man sich an, wie sehr die Umfragewerte der AfD im Sommer und Herbst 2015 in die Höhe schnellten, lässt sich die These der eingeschüchterten Rechten aber kaum mehr halten. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: "Oft ist es aber auch genau umgekehrt: Je unzufriedener und wütender, desto lieber teilen sich die Leute mit", sagt Petersen.

Umfragen sind ein Spiel mit Erwartungen

Meinungsumfragen beeinflussen Wähler und Politiker gleichermaßen. Dass die SPD am Jahresanfang auf einer Welle der Euphorie ritt, lag nicht allein daran, dass Martin Schulz ihr Kanzlerkandidat wurde. Sondern vor allem daran, dass er der Partei deutlich bessere Umfragewerte bescherte als zuvor. Oder um es wie die Satireseite Der Postillon zu sagen: "Umfrage: Martin Schulz so beliebt wegen seiner hervorragenden Beliebtheitswerte". Die Beliebtheitswerte ziehen wiederum neue potenzielle Wähler an, die das dann in Umfragen mitteilen. Bandwagon-Effekt ist der Fachbegriff und beschreibt, wenn Umfragenerfolg zur selbsterfüllenden Prophezeihung wird - oder sinkende Zahlen Wähler abschrecken, die ihre Stimme nicht an eine Partei vergeben wollen, die es vielleicht gar nicht ins Parlament schafft.

Gleichzeitig können Umfragen Politiker und ganze Parteien in eine Krise stürzen, wenn ihre Ergebnisse unter den Erwartungen bleiben. Die ehemalige SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi beschrieb das mal so: "Die Umfragen sind eine Mischung aus Abstimmung und Zwischenzeugnis, im besten Fall bieten sie im Streit einer der beiden Positionen neue Argumentationsnahrung." Manchmal weiß man nicht, was zuerst da war: Das Ei einer politischen Position oder die Henne der neuesten Umfragezahlen.

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