Russland:"Der Kreml ist oft ratlos, wie er reagieren soll"

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Demonstration in Moskau. (Foto: AFP)

Am Wochenende wollen in Moskau wieder Hunderttausende protestieren. Das repressive System werden sie nach Ansicht des Politologen Andrej Kolesnikow nicht ändern - aber womöglich die Gesellschaft.

Interview von Paul Katzenberger, Moskau

Seit drei Wochen gehen die Menschen in Moskau für faire Regionalwahlen im September auf die Straße. Die Protestwelle dürfte am kommenden Samstag und Sonntag einen neuen Höhepunkt erreichen: An den zwei aufeinander folgenden Tagen sind Massenkundgebungen für jeweils 100 000 Teilnehmer angemeldet und von den Behörden zugelassen. Aufgrund der Genehmigungen ist mit weniger Polizeigewalt zu rechnen als bei den ungenehmigten Demonstrationen im Moskauer Stadtzentrum in den vergangenen Wochen, bei denen mehr als zweitausend Protestierende vorübergehend festgenommen wurden. Der Politologe Andrej Kolesnikow vom Moskauer Büro der Carnegie-Stiftung spricht über die möglichen Folgen des Protests.

SZ: Was erwarten Sie von den kommenden Demonstrationen?

Andrej Kolesnikow: Der Protest wird das Regime nicht stürzen. Wenn sehr viele Leute kommen sollten, könnte das aber ein Exempel für weiteren legalen Protest statuieren. Die russische Zivilgesellschaft würde ein Zeichen setzen: "Wir sind hier, wir sind viele, und wir zeigen es." Daraus ergibt sich ein sehr widersprüchliches Bild. Denn der zivile Widerspruch kann das System nicht ändern, aber er kann die Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad verwandeln.

Was bedeutet das konkret?

Die russische Zivilgesellschaft ertrotzt sich ein etwas größeres Mitspracherecht. In Jekaterinburg bewirkten die Proteste Tausender Bürger im Mai, dass eine Kathedrale nicht auf eine der wenigen Grünflächen der Stadt gebaut wurde. Es gibt weitere solche Erfolgsgeschichten, die die Bürger ermuntern, ihre eigenen Interessen gegen die Staatsgewalt zu verfolgen. Der Kreml ist oft ratlos, wie er in solchen Fällen reagieren soll. Denn die, die da auf die Straße gehen, bildeten bislang seine Wählerschaft.

Aber bei dem derzeitigen Konflikt in Moskau deutet nichts auf ein Einlenken der Behörden hin. Diese Woche wurde die Kandidatur von 19 Oppositionskandidaten für die Wahl zur Moskauer Stadtduma endgültig abgelehnt.

Das stimmt. Weil es dabei um eine Frage des politischen Systems als Ganzes geht. Die Staatsgewalt ist unter Umständen bereit, bei sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheit einzulenken, aber wenn ihre politische Macht als solche infrage gestellt wird, trägt sie den Konflikt aus. Wenn es sein muss, mit Bereitschaftspolizei und Gewalt.

Kann die Opposition überhaupt etwas tun, um ihre Anliegen in solchen Grundsatzfragen erfolgreicher durchzusetzen?

Da erkenne ich beim besten Willen keine Möglichkeiten. Die Staatsmacht wird die Teilnahme von echten Oppositionskandidaten bei Wahlen unter allen Umständen verhindern, egal ob auf kommunaler, regionaler oder Föderationsebene. Eine Ausnahme mögen Bewerber von Jabloko ( linksliberale russische Partei; Anm. d. Red.) sein, die vom Regime als nicht so gefährlich eingeschätzt werden. Im September 2013 erlaubten die Behörden Alexej Nawalny, bei der Bürgermeister-Wahl in Moskau anzutreten, wo er überraschend gut abschnitt. Der Kreml betrachtete das im Nachhinein als Fehler. Seither konnten Leute aus dem Nawalny-Lager bei keiner Wahl mehr antreten.

Andrej Kolesnikow ist Experte für russische Politik im Moskauer Büro der Carnegie-Stiftung. (Foto: Carnegie Moscow Center)

Wäre es aus Sicht der Mächtigen nicht klüger, Oppositionskandidaten für eine relativ unwichtige Volksvertretung wie die Moskauer Stadtduma zuzulassen, und zu versuchen, sie nach der Wahl zu marginalisieren oder zu korrumpieren? So könnten sie verhindern, dass der Protest auf die Straße getragen wird.

Die derzeitige politische Elite in Russland sieht das anders. Sie will der Opposition keine Bühne geben. Wer erst einmal in Amt und Würden ist, hat mehr Möglichkeiten, seine Sicht der Dinge öffentlich kundzutun. Ljubow Sobol ( Oppositionspolitikerin, die von der Wahl der Moskauer Stadtduma ausgeschlossen wurde; Anm. d. Red.) ist ausgesprochen eloquent. Wäre sie eine Delegierte, könnte sie von ihrer Sprachgewalt mehr Gebrauch machen als jetzt. Russland hat ein autoritäres politisches System. Oppositionelle sind in einem Staatsamt nicht vorgesehen.

Ist es für die Staatsmacht nicht auch riskant, laufend von der Opposition mit öffentlichen und ungenehmigten Protesten herausgefordert zu werden?

Dieses Risiko hält sich für die Behörden in Grenzen, zumal die ergriffenen Gegenmaßnahmen wirksam sind. Zu den ungenehmigten Protesten am vergangenen Wochenende kamen weniger Leute und sie waren weniger gut organisiert als die Proteste am Wochenende davor. Denn so gut wie alle Anführer der Oppositonsbewegung wurden vorübergehend in Gewahrsam genommen. Die Demonstration am vergangenen Wochenende hat in unkoordinierter Form zwar trotzdem stattgefunden, und das war eindrucksvoll genug. Aber Proteste sind nun mal wirksamer, wenn sie gut organisiert sind und bestimmte Slogans von oben nach unten einheitlich kommuniziert werden.

Unter den Ersten, die festgenommen wurden, war Russlands führender Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Seither war er zwischendurch im Krankenhaus, weil er in seiner Zelle möglicherweise vergiftet wurde, und nun wurde ein Strafverfahren gegen seinen Antikorruptionsfonds eingeleitet. Was hat das zu bedeuten?

Das könnte sich noch als eine sehr ernste Bedrohung für Nawalny herausstellen. Ich persönlich betrachte das neue Strafverfahren als Indiz dafür, dass im Staatsapparat der Entschluss gefallen ist, Nawalny längerfristig ins Gefängnis zu stecken. Er hat die Mächtigen lang genug geärgert, sie haben die Nase voll von ihm. Die jüngsten Straßenproteste haben das Fass aus ihrer Sicht zum Überlaufen gebracht. Deswegen stempeln sie ihn jetzt als Kriminellen ab und schließen ihn weg. Das hat auch Symbolcharakter. Denn damit geben sie der Opposition zu verstehen: "Wir haben die Macht - nicht ihr."

Bislang hat der Kreml davor zurückgeschreckt, Nawalny hinter Schloss und Riegel zu bringen. Vermutlich deswegen, weil er damit zu einem Märtyrer und einer noch stärkeren Identifikationsfigur für die Opposition würde. Warum jetzt dieser Schwenk?

Weil im Kreml bislang die Auffassung vorherrschte, dass er der Staatsmacht im Gefängnis gefährlicher werden könnte, als wenn man ihn gewähren lässt. Den Entscheidern ist klar, dass es lästigen Widerspruch aus dem Westen bedeutet, Nawalny einzusperren. Doch spätestens seit der Annexion der Krim ist man in der Präsidialadministration ohnehin ziemlich unberührt von westlicher Kritik. Und da Nawalny nicht aufhört, Unruhe zu stiften, denken sie jetzt womöglich, dass er im Gefängnis weniger Schaden anrichtet, als wenn er weiter arbeitet. Sie können es zumindest ja mal ausprobieren und sehen, was passiert. Wenn die Folgen für den Kreml überschaubar bleiben, wäre die Opposition wirksam geschwächt.

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