Demonstrationen weltweit:Was die neue Protestgeneration antreibt

Demonstrators participate in a protest on the streets of Belo Horizonte

Demonstranten in Brasilien

(Foto: REUTERS)

Von Rio bis nach Istanbul: Die junge Generation vieler Schwellenländern hat festgestellt, dass Flachbildfernseher und Einkaufszentren nicht glücklich machen. Sie wollen Bildung, Gesundheit, Sicherheit - und den erarbeiteten Wohlstand nicht wieder verlieren. Es ist der Protest derer, die durch die Globalisierung zu essen haben und nun fürchten, von der Globalisierung gefressen zu werden.

Von Sebastian Schoepp

Es gibt eine Karteikarte aus ihrer Fahndungsakte, die sie als "Terroristin" ausweist. Ihr Fingerabdruck ist dort zu sehen, das Foto zeigt sie mit dicker Hornbrille, darunter die Liste der Vorwürfe von Bankraub über Mordkomplotte bis zur Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung. Die Karte trägt den Stempel capturado, gefangengenommen. Der Vermerk ist von 1970. Dilma Rousseff, heute Präsidentin von Brasilien, litt damals 22 Tage in einem Folterkeller der Militärdiktatur.

Zu ihrer Zeit war Protestieren lebensgefährlich. Als vor kurzem in ihrem Land Hunderttausende demonstrierend auf die Straße gingen, sagte Dilma Rousseff: Protest sei das "Vorrecht der Jugend". Als Veteranin des Widerstands signalisiert sie Verständnis für die zumeist jungen Demonstranten, doch die wollen das nicht hören. Für sie ist die 66-Jährige nur eine Vertreterin des Establishments. Kommt die Präsidentin den Demonstranten ein Stück entgegen, schrauben die ihre Forderungen einfach ein Stück weiter nach oben.

Ist das nicht schrecklich maßlos und undankbar? Hat nicht erst die kombinierte Sozial- und Wachstumspolitik Rousseffs und ihres Vorgängers Lula Hunderttausende Menschen aus den Elendsvierteln geholt, sie überhaupt erst in die Lage versetzt, über ihren Zustand nachzudenken? Doch die Protestierenden gleichen das regierungsamtliche Bild vom schönen neuen Brasilien erbarmungslos mit der Realität ab, die trotz Wachstum hektisch, gefährlich und korrupt geblieben ist. Was sich geändert hat, sind diese jungen Menschen. Mit Fußball, so wie früher, lassen sie sich jedenfalls nicht mehr abspeisen.

Einer, der das erkannt hat, ist der neue Papst. "Die Welt braucht Jugendliche wie Euch", sagte Franziskus bei seinem Besuch in Rio. Seine Kritik an den "vergänglichen Götzen" unserer Zeit findet Widerhall in einer Jugend, die eben merkt, dass Flachbildfernseher und Shopping Mall alleine nicht glücklich machen.

Aufstände mit modernen Gesichtern

In der Türkei ein ähnliches Bild: Der Wirtschaftsislamismus von Regierungschef Erdoğan und seiner Partei hat das Land zum Schwellenland mit riesigem Wachstum gemacht - und nun steht die Generation, die von diesem Wachstum am meisten profitiert, auf, um gegen dessen korrupte Begleiterscheinungen zu protestieren. In Bulgarien erhebt sich die Jugend gegen eine Politikergeneration, die das einst marginalisierte Ostblockland in die EU gehievt hat. In Ägypten verjagen die Massen die Muslimbrüder, die in den Kerkern des ebenfalls verjagten Machthabers Mubaraks gesessen hatten.

Die Aufstände in all diesen Ländern tragen dieselben modernen Gesichter, die Gesichter einer globalisierten Mittelstandsjugend. So unterschiedlich die jeweiligen Probleme in den Ländern sind, die Forderungen ähneln sich: Immer geht es im Kern um die Abrechnung mit den Patriarchen der alten Ordnung. Es steckt also ein klassischer Generationenkonflikt dahinter, der vordergründig Parallelen zu den 68ern zu haben scheint. Auch sie waren ja Kinder einer autoritären Generation, die einen Wohlstand geschaffen hatte, der ihre Kinder erst in die in die Lage versetzte, diesen in Frage zu stellen.

Doch damit erschöpft sich die Gemeinsamkeit. Die 68er wollten Utopien. Sie wollten brechen mit dem politischen System, träumten vom Marxismus. Mit Marxismus jedoch hat die heutige Protestgeneration wenig im Sinn. In Brasilien sind Tausende durch einen Kapitalismus mit sozialem Antlitz aus den Favelas gekommen. Sie wollen keine Revolution, Umstürze hatten sie genug in ihrer Geschichte. Sie treibt eher die Sorge, viel zu verlieren zu haben.

Abrupter Aufstieg

Die absolute Armut ist in den meisten Familien eine lebendige Erinnerung. Dieser neue Mittelstand weiß um seine wirtschaftliche Verletzlichkeit. Die Menschen spüren, dass sie nichts anderes sind, als neues Proletariat, nur eben ohne Klassenbewusstsein, wie es der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes ausgedrückt hat. Wer in São Paulo jeden Morgen und Abend stundenlang im Stau steht, um das Geld zu verdienen, das den mühsam erarbeiteten Lebensstandard sichert, spürt auch, was für einen Stress das bedeutet und wie traditionelle Werte von Familie und Gemeinschaft dabei auf der Strecke bleiben.

Weil ihr Aufstieg im Zuge der Globalisierung abrupter vonstatten ging, sind in den Schwellenländern die Nachteile des reinen Materialismus schneller und heftiger zu Tage getreten als in den Industrieländern. Es geht die Furcht um vor unternehmerischem Flächenmanagement, vor der Privatisierung des öffentlichen Raums, vor der Verkapitalisierung der Stadtpolitik und vor dem Verlust der Partizipation, die etwa in Brasilien aus der Not heraus eigentlich eine große Tradition hat.

Es geht den Menschen um elementare Dinge wie Gesundheit, Sicherheit, Bildung, um weniger Korruption. Sie wollen, dass ihr Fortkommen eine soziale und ökologische Komponente erhält. Sie wollen nicht mehr nur überleben, sondern gut leben, und dazu gehören Umweltschutz, Mitbestimmung, eine lebenswerte Umgebung. Die Proteste offenbaren ein Talent zu sozialer Gesinnung, die viele Ältere einer Generation nicht gar nicht mehr zutrauen wollten, die sich anscheinend nur über iPhone und Facebook definierte. Bis sie feststellte, dass Flachbildfernseher und Einkaufszentren nicht glücklich machen.

Junge Leute wachen auf

In Brasilien gab es bei den WM-Vorbereitungen sogar positive Ansätze in dieser Richtung. Etwa soll in São Paulo ein Grüngürtel geschaffen werden, der von Guarulhos bis zum Stadion reicht. Einige Favelas müssen weichen. Die Menschen bekommen bessere Häuser dafür, was im Grunde für sie in Ordnung wäre - wenn man sie denn vorher ausreichend informiert hätte. Ist das Überempfindlichkeit? Nein, das Verlangen nach mehr Partizipation zeugt von demokratischer Reifung breiter Gesellschaftsschichten.

In Madrid kam der Protest gegen die Auswüchse einer einseitig an Wachstum und Konsum ausgerichteten Politik zu spät, er setzte erst ein, als die Katastrophe schon eingetreten war. Dort wirft die Generation der heute 30-Jährigen den eigenen Eltern vor, sich nach der Demokratisierung nach 1975 nur um ihr eigenes materielles Fortkommen in den bestehenden, korrupten und letztlich unproduktiven Strukturen gesorgt zu haben. Sie hätten es sich nach vermeintlich getaner Arbeit gemütlich eingerichtet in einem System, das auf Sand gebaut war und das dem Nachwuchs nun keine Basis für eigene Lebensentwürfe mehr bietet.

In Brasilien oder der Türkei sind die jungen Menschen früher aufgewacht, was daran liegt, dass ihr Aufstieg nicht unter dem so schützenden wie gängelnden Mantel einer EU geschah. Sie haben berechtigte Angst vor dem Platzen einer Blase, und sie haben sehr genau zugesehen, was in Spanien passierte. Sie spüren, dass der wirtschaftliche Fortschritt labil ist, wenn er nicht von einer gefestigten, staatsbürgerlichen Gemeinschaft getragen wird. Den Patriarchen, die das System geschaffen haben, trauen sie nicht zu, es zu verwalten. Es ist kein Zufall, dass die Proteste am lautesten sind in Ländern, die zu Clanstrukturen neigen, von Ägypten über Spanien und Brasilien bis in die Türkei. Es sind Länder, in denen die Familie bislang den Staat weitgehend ersetzte.

Neuer Individualismus

Durch die Globalisierung hat der neue Mittelstand den Individualismus entdeckt, seine Vorzüge und Nachteile. Der Individualismus sagt: Du kannst etwas werden, auch ohne Clan. Der Nachteil: Die Jungen spüren, dass der Clan ihnen womöglich im globalisierten Wettkampf keinen Schutz mehr bietet, ja dass er hinderlich wird, weil er den Blick auf die Welt mit seinen schützenden und einsperrenden Mauern verbaut. In Clanstrukturen wird man nicht nach individueller Leistung beurteilt, sondern nach der Frage, die in Italien sprichwörtlich ist: Ma chi ti conosce? Aber wer kennt Dich?

Nach dem Prinzip des "Wir-kennen-uns" werden Großprojekte ausgemauschelt, wie die pharaonischen Projekte im Spanien, die WM-Stadien in Brasilien, Einkaufszentren in der Türkei. Clanstrukturen neigen zu Größenwahn und Ikonografie, sie sind ineffizient - und sie stehen gemeinschaftlichen Einrichtungen wie öffentlichen Verkehrsmitteln im Wege, denn der Clan fährt seine Mitglieder im Auto herum.

Patriarchalische Systeme decken darüber hinaus Missstände, wie in Indien, wo es erst nach der Gruppenvergewaltigung einer aus der Armut aufgestiegenen Mittelschichts-Studentin zu Massenprotesten kam. Und patriarchalische Systeme sind korrupt: Die Eindämmung der Korruption ist eine der zentralen Forderungen von Sofia bis Rio. Somit steckt auch ein Stück weit Selbsterkenntnis in dieser Revolution. Es ist der Versuch, die eigenen Verhältnisse von innen heraus zu ändern, was den Prozess schwierig, langwierig und schmerzhaft macht.

Abwehrreflexe der alten Eliten

Der Überdruss mit patriarchalischen Strukturen bringt mit sich, dass die neue Protestbewegung keine neuen Führungsfiguren will. Die Proteste seien nicht mehr von Gewerkschaften oder Lobbys mit langen Forderungslisten getragen, stellt der Economist dieser Tage nicht ohne Verwunderung fest. Jeder, der versucht, die Proteste zu instrumentalisieren oder parteipolitisch auszuschlachten, wie etwa die spanischen Sozialisten oder die brasilianische Rechte, wird gnadenlos ausgebuht. So trägt der Protest anarchische Züge, die es so schwierig machen, mit ihm umzugehen. Das ist es, was die alteingesessenen Eliten rund um den Globus nachhaltig verwirrt.

Bislang üben die meisten Anführer sich in Abwehrreflexen. Sehr beliebt ist es, Demonstranten in die Nähe von Terroristen zu rücken. Ein gefährliches Spiel. In welchen Zuständen solche Diskurse enden können, sieht man an Dilma Rousseffs Fahndungsakte. Doch dieser Protest lässt sich nicht mehr so leicht im Verborgenen mit Gewalt unterdrücken wie in den 1970er Jahren in Südamerika. Das ist eine der größten Errungenschaften der digitalen Welt.

Der digitale Austausch ist auch längst keine Domäne der Mittelschicht mehr: In Kambodscha demonstrierten Textilarbeiter gegen Billiglöhne mit ausdrücklichem Verweis auf ähnliche Zustände in Bangladesch. Es ist der Protest derer, die durch die Globalisierung zu essen haben und nun fürchten, von der Globalisierung gefressen zu werden. Das lässt darauf schließen, dass man bald mehr davon sehen wird. Auch der Economist stellt fest: Politische Anführer in Moskau, Riad und Peking sollten auf der Hut sein - alle eben, die so weiterwursteln wollen wie bisher.

Und was ist eigentlich in Deutschland? Hannah Beitzer erklärt in diesem Text, warum junge Deutsche so wenig protestieren.

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