Demonstrationen:Was die Deutschen auf die Straße treibt

Am Montagabend haben mehr als 90.000 Hartz-Gegner demonstriert. Volkes Zorn macht sich am Sozialabbau fest. Aber schon in der Vergangenheit hat es viele Streitthemen gegeben, die die Massen mobilisiert haben - ein Streifzug durch die Protestgeschichte.

Von Bernd Oswald

17. Juni 1953: Nachdem die SED zehnprozentige Normerhöhungen ohne Lohnausgleich in allen volkseigenen Betrieben beschlossen hat, kommt es zu Streiks und Demonstrationen. Bald erreichen die Proteste eine politische Bedeutung: Die Arbeiter fordern auch freie Wahlen, die Wiedervereinigung und die Ablösung Ulbrichts. Der Volksaufstand erfasst über 400 Orte und rund 600 Betriebe in der DDR, landesweit beteiligen sich mehr als eine halbe Million Menschen.

Demonstrationen: Im Zorn entzünden die Demonstranten am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin einen Propaganda-Stand der SED.

Im Zorn entzünden die Demonstranten am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin einen Propaganda-Stand der SED.

(Foto: Foto: AP)

Mit Hilfe der Volkspolizei schlägt das sowjetische Militär die Erhebung blutig nieder. Genaue Zahlen über die Opfer liegen nicht vor, neuere Forschungen sprechen von mehr als 50 Toten.

Die DDR-Führung nahm zwar die Normerhöhungen zurück, an den politischen Verhältnissen änderte sich aber nichts. In der BRD wird der 17. Juni durch Gesetz vom 4. August 1953 zum "Tag der deutschen Einheit" und zum "nationalen Gedenktag" erhoben.

17. April 1958: In Hamburg protestieren etwa 150.000 Menschen gegen den "Atomtod". Bürgermeister Max Brauer verlangt, an Bundeskanzler Adenauer gewandt, dass das Volk bei einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr mitbestimmen müsse.

Die noch im Aufbau befindliche Bundeswehr verzichtet nicht zuletzt wegen des Protests der Bevölkerung auf die Anschaffung von Atomwaffen.

2. Juni 1967: Während eines Staatsbesuchs des iranischen Schahs kommt es zu Demonstrationen gegen das diktatorische Regime Reza Pahlewis. Bei schweren Ausschreitungen wird der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Ohnesorgs Tod löst in vielen westdeutschen Städten Unruhen aus. Mehr als 100.000 Studenten demonstrieren in der ersten Juni-Woche.

Es kommt zu Brandanschlägen gegen den Springer-Verlag, dem antistudentische und antikommunistische Hetze vorgeworfen wird, und gegen Kaufhäuser als Symbole des verhaßten "kapitalistischen Systems". Ohnesorgs Tod führt zu einer Radikalisierung der Studentenbewegung. Ein kleiner Teil des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) entwickelt sich zu den Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) und zur "Bewegung 2. Juni".

11. April 1968: Das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke ruft über Ostern gewaltttätige Protestaktionen hervor, an denen sich mehr als 400.000 Menschen beteiligen.

11. Mai 1968: Im Frühjahr 1968 plant die Große Koalition eine Notstandsgesetzgebung, für die sie das Grundgesetz ändern will. Die Notstandsverfassung stellt den Staatsorganen Maßnahmen zur Abwehr innerer und äußerer Notlagen zur Verfügung.

Besonders Studentengruppen, die Gewerkschaften und das Kuratorium "Notstand der Demokratie" rufen zu Protesten und Massenkundgebungen auf. Am 11. Mai erreicht die Protestwelle ihren Höhepunk: Organisiert vom SDS und den Gewerkschaften kommt es zu einem Sternmarsch auf Bonn. Die Teilnehmerzahlen schwanken stark, die Polizei spricht von 20.000 Demonstranten, die Veranstalter von 60.000.

Der Protest half nichts: Am 30. Mai 1968 beschließt der Bundetag die Einführung einer Notstandsverfassung. In der Folgezeit zerbricht die APO.

31. März 1979: Bei der bislang größten Demonstration von Kernkraftgegnern in der Bundesrepublik protestieren in Hannover mindestens 40.000 Teilnehmer gegen die geplante Atommüll-Deponie Gorleben. Erfolg ist ihnen nicht beschieden: Das Zwischenlager Gorleben wird gebaut und ist heute noch in Betrieb.

22. November 1983:Am Tag, als der Bundestag die Aufstellung von US-Raketen in Deutschland beschließt, demonstrieren im Bonner Hofgarten bis zu 500.000 Menschen gegen die Nachrüstung mit US-Raketen.

In Hamburg sind es 400.000 Demonstranten, über die schwäbische Alb bildet sich eine 108 Kilometer lange Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm. Bereits in den Jahren zuvor war es zu Massenprotesten gekommen.

Die US-Raketen vom Typ Pershing II wurden trotz der massiven Proteste in der Bundesrepublik stationiert. Allerdings setzte schon Mitte der Achtzigerjahre zwischen den Supermächten ein neuer Abrüstungsdialog ein, durch den die in Deutschland neu aufgestellten Raketen bald wieder abgebaut werden konnten.

Was die Deutschen auf die Straße treibt

12. Oktober 1985: Mehrere zehntausend Atomkraftgegner demonstrieren in München gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage (WAA) für Brennelemente im bayerischen Wackersdorf. Im März und Mai 1986 kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Im Juli 1986 nehmen mehr als 100.000 Besucher am "Anti WAAhnsinnsfestival" im bayerischen Burglengenfeld teil.

Demonstrationen: Auf dem Weg zur Kundgebung gegen die Notstandsgesetze laufen Demonstranten am über die Kennedy-Brücke in Bonn. Der Sternmarsch auf Bonn markierte den vorläufigen Höhepunkt der Protestwelle des Frühjahrs 1968.

Auf dem Weg zur Kundgebung gegen die Notstandsgesetze laufen Demonstranten am über die Kennedy-Brücke in Bonn. Der Sternmarsch auf Bonn markierte den vorläufigen Höhepunkt der Protestwelle des Frühjahrs 1968.

(Foto: Foto: AP)

Die Folge: Der die WAA betreibende VEBA-Konzern verzichtet im April 1989 auf den Weiterbau der Anlage. Offizielle Begründung: Die Anlage sei nicht rentabel.

Am 23. Oktober 1989 nehmen 300.000 Menschen an der Leipziger Montagsdemonstration teil und skandieren: "Wir sind das Volk!". Später wird die Parole in "Wir sind ein Volk!" geändert. Am 4. November sind es in Ost-Berlin sogar mehr als 500.000, die für Meinungs- und Versammlungsfreiheit demonstrieren. Fünf Tage später fällt die Mauer, umgehend beginnt der Einigungsprozess. Mit hohem Druck verhandeln die Bundesrepublik, die DDR-Regierung und die vier Siegermächte über die deutsche Vereinigung, die am 3. Oktober 1990 hergestellt wird.

26. Januar 1991: In Bonn demonstrieren 200.000 Menschen gegen den zweiten Golfkrieg, an dem sich auch Deutschland beteiligt, vor allem finanziell. Der Krieg im Irak dauerte bis zum 28. Februar 1991.

Dezember 1992: In Hamburg demonstrieren am 13.12.1992 bis zu 450.000 Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit, in München waren es eine Woche zuvor 300.000 Teilnehmer. Die Bürger wollen mit Lichterketten ein Zeichen gegen Fremdenhass setzten, der sich in Anschlägen auf Asylbewerberheime und Häuser von Ausländern in Deutschland manifestiert.

Am 29. Mai 1993, drei Tage nach dem Asylkompromiss kommt es zum bis dahin schwersten Brandanschlag. In der Nacht zum Pfingstsamstag wird in Solingen in einem von Türken bewohnten Haus eine brennbare Flüssigkeit ausgeschüttet und angezündet. Dabei kommen fünf Mädchen und Frauen ums Leben.

15. Juni 1996: In Bonn demonstrieren 350.000 Menschen gegen Sozialabbau in Krankenversicherung und Arbeitsrecht. Die CDU/CSU-FDP-Bundesregierung gibt dem Druck der Straße nicht nach, verliert aber die Bundestagswahlen 1998. Die neu ins Amt gekommene rot-grüne Bundesregierung stellt die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder her.

14. Februar 1997: Im Ruhrgebiet bilden 220.000 Menschen eine Kette und wehren sich gegen den Abbau von Subventionen im Bergbau. In einem Spitzengespräch bei Bundeskanzler Kohl wird ein Kompromiss geschlossen: Die Bundeszuschüsse werden zwar gekürzt, aber weniger stark als ursprünglich geplant.

9. November 2000: Mehr als 200.000 Menschen demonstieren in Berlin gegen Ausländerfeindlichkeit.

14. September 2001: Drei Tage nach den Anschlägen in New York und Washington finden sich in Berlin rund 200.000 Menschen zu einer Solidaritätskundgebung zusammen und folgt damit dem Bundeskanzler, der den USA unmittelbar nach dem 11. September Deutschlands "uneingeschränkte Solidarität" versichert hatte. Die Bundesrepublik nahm am Afghanistan-Krieg teil, was in der deutschen Bevölkerung allerdings auf weniger Begeisterung stieß und den Kanzler zu einer Vertrauensabstimmung im Bundestag zwang.

15. Februar 2003: Rund 500.000 Menschen demonstrieren in Berlin gegen den sich abzeichnenden Irak-Krieg. In Stuttgart sind es 50.000 Demonstranten. Der Krieg begann einen Monat später, dieses Mal allerdings ohne deutsche Beteiligung.

3. November 2003: Etwa 100.000 Unzufriedene gehen in Berlin gegen die Agenda 2010 der Bundesregierung auf die Straße. Am 3. April 2004 sind es bundesweit sogar rund 500.000 Menschen, davon die Hälfte in Berlin.

9. August 2004: Bei Prostesten gegen das Gesetz Hartz IV zur Reform des Arbeitsmarkts finden sich in mehreren deutschen Städten zigtausend Demonstranten zusammen. In Anlehnung an die Demonstrationen in der DDR 1989 wird der Begriff "Montagsdemonstrationen" aufgegriffen. Die Bundesregierung hat bisher nur marginale Änderungen an ihren Gesetzen zur Reform des Arbeitsmarkts vorgenommen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: