Demonstrationen für soziale Gerechtigkeit:Warum die Proteste in Israel das Land verändern
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Es muss ein geheimnisvolles Bindemittel geben, das alles zusammenhält: Es ist kein Kampf für Menschenrechte gegen brutale Diktatoren und Panzer, aber von den Massenprotesten in Israel geht ein echter Geist des Wandels aus. Es geht um Gerechtigkeit: für die Armen, die Ärzte, die Studenten, die jungen Eltern, die Fabrikarbeiter. Kurzum: für alle.
Assaf Gavron
Vor drei Wochen hat es begonnen, an jenem sehr heißen und symbolischen 14. Juli. Das vorherrschende Gefühl, das man seither empfindet, wenn man mit Freunden spricht, mit dem Fahrrad durch die Alleen von Tel Aviv mit den aufgereihten Zelten fährt, Radio hört, die Zeitungen liest und die Twitter-Beiträge verfolgt, ist eines der Verwunderung und des Staunens: Geschieht das wirklich? Hier, in Israel? Tatsächlich?
Wovon wir sprechen, ist nicht einmal klar definiert und wenn man versucht, zu erklären, wie das alles begonnen hat, klingt es nach keiner großen Sache: Menschen, die gegen die Kosten für Miete und Grundnahrungsmittel wie Hüttenkäse protestieren. Menschen aus der Mittelschicht, die finanziell kaum noch über die Runden: Gebildete, Berufstätige, Studenten, Familien. Nun werden einige denken: Klingt unerfreulich, aber muss man deshalb solch einen Aufstand veranstalten? Immerhin sind sie doch gebildet und berufstätig. Was ist mit den Armen? Mit der Besatzung? Mieten und Hüttenkäse? Ist das wirklich so aufregend?
Die Antwort ist ein eindeutiges, lautes "Ja". Es ist sehr, sehr aufregend. Und es ist viel mehr als das. Meiner Meinung nach erleben wir etwas nie Dagewesenes, Historisches. Diese Behauptung ist noch bescheiden verglichen mit den Kommentatoren um mich herum, von denen einige eigentlich als Skeptiker und Zyniker gelten. Ich will versuchen zu erklären, warum das so ist und wie aus ein paar Zelten, aufgestellt am 14. Juli im Herzen von Tel Aviv, nur drei Wochen später eine Demonstration von über 300.000 Menschen im ganzen Land wurde.
Das Wort, das einem immer wieder in den Sinn kommt, ist Spirit oder Geist. Weil der ganze Protest ungeplant war und von keiner Gruppe oder Partei organisiert wurde. Weil er von unten begann und immer noch wächst. Weil er jeden eingeladen hat, sich anzuschließen, unabhängig von den Absichten, sich selbst aber nicht mit irgendwem verbunden hat oder bereit war, sich von irgendwem repräsentieren zu lassen.
Es muss ein geheimnisvolles Bindemittel geben, das alles zusammenhält. Das ist der Geist, den man fühlt, wenn man durch die Zeltstädte wandert - es gibt Tausende davon in Stadtzentren in ganz Israel und vor allem jene eine am Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, im Herzen der Stadt. Es ist ein echter Geist des Wandels und wenn ich versuche, ihn zu analysieren, stoße ich auf verschiedene Elemente, die aus meiner Sicht die einzigartige Zusammensetzung dieses neuen Geistes ausmachen.
Stimme wiedergefunden
Ein Element ist die Stimme: Viele Israelis, die sich jahrelang zum Schweigen gebracht, von Diskussionen und Diskursen ausgeschlossen fühlten, betäubt waren, haben plötzlich ihre Stimme wiedergefunden. Sie können zusammensitzen und die Angelegenheiten besprechen, die ihnen am Herzen liegen. Und sie werden gehört. Jahrelang wurde ihnen gesagt, dass das wichtigste, wenn nicht das einzige Problem die Sicherheit sei, der Konflikt mit den Palästinensern, die andauernde Bedrohung unserer Existenz. "Wenn die Waffen ertönen, schweigen die Musen", sagt das Sprichwort.
In Israel war es ein Mantra, das für Jahrzehnte blind befolgt wurde. Mehr noch: Seit dem Angriff auf Gaza Anfang 2008 war unter vielen Israelis das Gefühl verbreitet, dass die Diskussion nicht nur unterdrückt, sondern von einer extremistischen und gefährlichen Regierung an sich gerissen wurde, die antidemokratische Gesetze verabschiedet und einen faschistischen Außenminister hat. Die Zelte und der Protest erlaubten den Verstummten, ihre Stimme wiederzufinden und verschiedene Punkte auf den Tisch zu bringen. Das hat für enorme Erleichterung und Aufregung gesorgt.
Ein zweites Element ist der starke Gemeinschaftssinn, noch etwas, was angeblich aus dem Leben in Israel verschwunden war, mit Ausnahme vielleicht von religiösen Kreisen oder obskuren Online-Zirkeln. Hier sieht man ein faszinierendes Paradox: eine nicht-urbane Gemeinschaft inmitten der größten Metropole Israels. Wenn man die Zeltstadt am Rothschild-Boulevard durchwandert, spürt man diesen Zusammenhalt: Tausende miteinander, nicht jeder für sich.
Dieser Gemeinschaftssinn ist auch Teil der Botschaft der Protestler: Die wichtigste Losung, die immer wieder gesungen wird und Plakate und Schilder bedeckt, lautet: "Die Menschen fordern soziale Gerechtigkeit!" Letztlich geht es also nicht um die hohe Miete eines verwöhnten Studenten. Es geht um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für die Armen, die Ärzte, die Studenten, die jungen Eltern, die Fabrikarbeiter. Kurzum: für alle.
Das nächste Element des neuen Geistes, der diesen Sommer in Israel in der Luft liegt, würde ich Anstand nennen: die freundliche, offene, nicht gönnerhafte Atmosphäre. Auch die sind wir nicht gewöhnt im konfliktüberladenen, zornigen Israel der letzten Jahre und erst recht nicht in der Mitte des extrem heißen und schweißtreibenden Sommers, wenn Mord- (und Kriegs-)Statistiken immer ansteigen.
Jeder ist willkommen, sich dem Protest anzuschließen und jeder scheint das zu tun. Die Zelte repräsentieren unterschiedliche Gesellschaftsbereiche. Man sieht bei den Demonstrationen Schilder, die unterschiedliche Ursachen benennen. Einige sehen das als Schwäche an - der Protest habe keinen Fokus, heißt es, die Forderung sei nicht klar und darum zum Scheitern verurteilt. Ich glaube das Gegenteil. In der Vielfalt liegt die Stärke - es ist wirklich "das Volk", das soziale Gerechtigkeit fordert, nicht eine Gruppe, die für ihre Interessen kämpft.
Stumme Zeichensprache
Wichtig in dem Zusammenhang ist auch der Stil der Diskussionen. Von Anfang an übernahm diese Bewegung die stumme Zeichensprache, verschiedene Handgebärden signalisieren den Zuhörern Unterstützung, Ablehnung oder die Erlaubnis zu sprechen. Erstaunlich für Israel, wo man daran gewöhnt ist, an jeder Straßenecke, auf jedem Bildschirm Menschen zu sehen, die sich die Seele aus dem Leib schreien und sich keine Mühe geben, anderen zuzuhören.
Bescheidenheit und Reife klingt auch aus den Botschaften, die sich auf den Tahrir-Platz in Kairo und die Revolutionen des "arabischen Frühlings" beziehen. Natürlich ist unsere Situation nicht vergleichbar. Wir kämpfen nicht für Menschenrechte und Demokratie gegen brutale Diktatoren und Panzer. Und dennoch, die Idee eines Volkes, das aufwacht und sagt: "Genug", geht sicher auf Tunesien, Ägypten, Syrien zurück. Dass man das zugibt, wie es die Schilder und Demonstranten tun, ist ein weiteres unerhörtes Phänomen in Israel. Wir und etwas von den Arabern lernen? Also bitte . . . Aber ja, genau das tun wir!
Die Urheber dieses Protests sind in ihren Zwanzigern, eine Generation, die ständig bezichtigt wurde, gleichgültig und sorglos zu sein und sich nur um sich selbst und ihre Reality-TV-Shows zu kümmern. Jeder kann am Protest teilnehmen, sie aber haben ihn begonnen und führen ihn in beeindruckender Weise an. Kniffe von erfahrenen Politikern wie Ministerpräsident Netanjahu und Kritik aus unterschiedlichen Richtungen (vor allem vom rechten Flügel) wehren sie ab.
Ebenfalls bemerkenswert ist die zentrale Rolle der Frauen - und das in unserer machogeprägten, militaristischen Gesellschaft. Bislang sprechen auf den Demonstrationen vor allem Frauen. Initiatorin und Anführerin des Ganzen ist die so charismatische wie wortgewandte Daphni Leef, eine 25-jährige Videocutterin, die aus ihrer Wohnung geworfen wurde und das erste Zelt aufstellte.
Und dann ist da noch der Stolz. Wiederum kein Gefühl, das wir in den letzten Jahren oft in Bezug auf unser Land verspürt haben. Wie viele meiner Freunde finde ich es schwer und manchmal beschämend, in einem Land zu leben, das im Laufe der Jahre extremistischer, intoleranter und ungerechter wird. Ich habe hier den Großteil meines Lebens verbracht, doch von Zeit zu Zeit bin ich froh, meine Sachen zu packen und anderswo zu leben.
Aber in den letzten Wochen bin ich wieder stolz, ein Israeli zu sein und ich fühle diesen Stolz unter meinen Freunden, wenn wir reden und zwischen den Zelten und Protestlern umhergehen. Mehr noch, man sieht, wie die Landesfahnen wehen, und auch das ist eine wunderbare Sache - ein Zurückerobern unserer nationalen Symbole von denen, die sie an sich gerissen und für ihren beschämenden Nationalismus in Geiselhaft genommen haben.
Mehr als alles andere hat dieser Protest Tiefe. Menschen ziehen nicht in Zelte, nur weil sie ihre Miete um 300 Schekel senken wollen. Sie - wir - kämpfen für die Form unserer Nation, weil uns die gegenwärtige Form nicht gefällt. Es werden keine speziellen Lösungen gefordert. Wir eröffnen eine Diskussion, wir wollen einen besseren Weg zu leben finden. Nicht blind dem kapitalistischen, amerikanischen Weg des freien Marktes folgen, wie es unser Ministerpräsident (und die Regierungen vor ihm, wie betont werden muss) getan hat.
Es geht um Rücksichtnahme und Gleichberechtigung. Darum sind wir vor allem so erstaunt. Nicht nur, weil sich hier eine große Sache ereignet, die nicht mit Krieg und Gewalt verbunden ist. Es mag von außen schwer zu verstehen sein, aber diese Sache strahlt eine Energie aus wie nichts zuvor.
Es wird immer noch genug sein
Seit den frühen Tagen des Protests fragen Menschen, was für Folgen er haben wird. Natürlich lässt sich unmöglich sagen, ob die Regierung stürzt. Ob die Macht der Straße sich in eine Macht der Wähler verwandelt. Wird diese neue Kraft stark genug sein, um die Mehrheiten zu verändern, den Graben zwischen Reich und Arm zu verkleinern oder gar das Ende der Besatzung und die Räumung der äußerst teuren Siedlungen im Westjordanland herbeizuführen?
Wer kann das heute wissen. Aber selbst, wenn die Antworten am Ende enttäuschend ausfallen: Diese kaum einen Monat alten Proteste waren trotzdem bereits erfolgreich. Weil sie die politische Kultur verändert haben und weil viele Menschen Einigkeit, Solidarität, Stolz und Optimismus spüren, die jahrelang keine derartigen Gefühle gekannt haben. Wenn das am Ende das einzige Ergebnis sein sollte, wird es immer noch genug sein.
Assaf Gavron lebt als Romanautor, Übersetzer und Musiker in Tel Aviv.
Aus dem Englischen von Marius Nobach