Süddeutsche Zeitung

Werkstatt Demokratie:Wie gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingt

Soziale Milieus entwickeln sich auseinander, Tabubrüche nehmen zu: Die Politologin Nicole Deitelhoff über Risiken für die Gesellschaft, Streit als Quelle der Erneuerung - und die Frage, was politisch zu tun ist.

Interview von Peter Lindner

Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff ist Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt. Mit Vertretern von zehn anderen wissenschaftlichen Einrichtungen arbeitet sie gerade am Aufbau eines Forschungsinstituts, das sich unter anderem mit Konfliktkultur, Zugehörigkeit und Zusammenhalt beschäftigen soll.

SZ: Frau Prof. Deitelhoff, Sie bauen gerade ein "Institut für gesellschaftlichen Zusammenhalt" mit auf. Warum brauchen wir das?

Nicole Deitelhoff: Die Frage nach dem Zusammenhalt stellt sich eigentümlicherweise ja immer dann, wenn der Eindruck entsteht, er sei gefährdet. Gegenwärtig finden in unserer Gesellschaft grundsätzliche Auseinandersetzungen statt. Zum Beispiel über die Frage, wer zu uns gehören kann oder darüber, was wir unter Demokratie verstehen.

Zugleich beobachten wir, wie sich soziale Milieus immer weiter auseinanderentwickeln und erleben zunehmend Tabubrüche in öffentlichen Auseinandersetzungen. Zusammen führt das genau zu diesem Eindruck der Gefährdung des Zusammenhalts und der Frage: Was kann uns eigentlich noch zum Zusammenhalten bewegen? Was hält uns zusammen? Diskutiert wurden solche Themen in den vergangenen Jahrzehnten öfter. Jetzt soll das Feld systematisch erforscht werden.

Wie lässt sich denn in diesen Zeiten Zusammenhalt herstellen?

Jedenfalls müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass dies durch einen dichten Kranz substanzieller Werte oder kultureller Vorstellungen gelingt. Dafür ist unsere Gesellschaft zu plural geworden. Wir haben uns zu weit auseinanderentwickelt. Jeder hat eine andere Idee vom richtigen Leben. Es muss etwas anderes sein, das uns zusammenbringt.

Was könnte das sein?

Ein wesentliches Moment stellt die Auseinandersetzung dar: Sie ist ein Vehikel, über das wir immer wieder Zusammenhalt herstellen, weil wir über die Auseinandersetzung über Werte und Normen die Grenze unseres Zusammenlebens immer wieder neu festlegen. Dazu ist es notwendig, den Streit über grundsätzliche Fragen in der Gesellschaft auch wirklich zu führen und dabei das sachliche Argument in den Mittelpunkt zu rücken. Der Dissens wird dann selbst zur Quelle der Erneuerung. Bürgerinnen und Bürger erfahren und entdecken sich in einem solchen Streit zugleich als Teil eines Kollektivs. Wir brauchen aber Orte und Formate für einen solchen produktiven Streit.

Gibt es genügend dieser Orte und Formate?

Nein, das ist eines der großen Probleme. Wir müssen bessere Vorbedingungen für produktives Streiten schaffen. Es fehlt vielerorts allein schon die Möglichkeit zum Streit. Innerhalb sozialer Milieus finden zwar noch Auseinandersetzungen statt, aber so gut wie gar nicht zwischen ihnen. Und da kann Politik gegensteuern.

Was genau schlagen Sie vor?

Es wäre zum Beispiel wichtig, dass die Politik Statusängsten von Eltern etwas entgegensetzt und tatsächlich eine soziale Durchmischung an Schulen befördert. Da passiert bisher zu wenig. Wir brauchen außerdem eine Politik, die endlich wieder den öffentlichen Raum gestaltet. Wir müssen niedrigschwellige Angebote schaffen, dass Menschen überhaupt wieder miteinander in Berührung kommen.

Wie kann das gelingen?

Dazu gehört beispielsweise eine großzügige Subventionierung von Kulturanstalten und eine Stärkung der politischen Bildung, ganz konkret der Konfliktfähigkeit. Das kann man lernen und damit sollte schon in der Schule begonnen werden.

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