Demokratie:So bluten Parteien aus

Landtagswahl Niedersachsen

Wenn man bei keiner der Volksparteien mehr sein Kreuz machen mag.

(Foto: picture alliance / Julian Strate)

Die politische Mitte galt viele Jahre als Sehnsuchtsort für Parteien, die groß sein wollten. Inzwischen zeigt sich: Über dieses Ziel haben SPD und Union Leidenschaft, Energie und Bindekraft verloren.

Essay von Stefan Braun, Berlin

Die Mitte - da will man hin, da muss man sein. Das wurde jahrzehntelang in der Strategielehre der Volksparteien gepredigt; und so haben es erst Gerhard Schröder und danach Angela Merkel über viele Jahre gehalten. Immer schön mittig, immer die Interessen ausgleichen. Nicht zu garstig abbiegen. Und dabei so viele Menschen wie möglich mitnehmen.

Daran ist nichts Ehrenrühriges. Immerhin trägt es die Kernbotschaft in sich, dass die Parteien mit der Mitte den sozialen Ausgleich und den für die Demokratie so wichtigen Kompromiss ansteuern. Versöhnend. Gleichgewichtig. Ausbalanciert.

Und doch: So schön es klingt, so gefährlich ist es geworden. Was ursprünglich eine bewusst liberale und inhaltsvolle Position war, ist zu einem großen Nebel geworden. Schleichend wurde aus einer klugen Analyse des Ausgleichs eine von eigenen Festlegungen beinahe freie Suche nach dem Ort, von dem aus man am wenigsten aneckt.

Hinzu kam, dass vor allem CDU und SPD den Ort der Mitte nicht mehr selbst definieren, sondern die eigene Positionierung von der Position der Ränder abhängig machte. Wer nicht selbst präzise Stellung bezieht, macht sich zum Fähnchen im Wind anderer; er wird von anderen bewegt, nicht von den eigenen Ideen. Besonders, wenn ein Rand sehr laut auftritt.

Der Druck von außen bremst den Elan im Inneren

Diese Entwicklungen lassen sich nach dem Erstarken der Linkspartei und später der AfD ablesen. Als Oskar Lafontaine und Gregor Gysi im Doppel die politische Bühne betraten, verschwanden nach der Bundestagswahl 2005 fast alle christdemokratischen Reformpläne.

Angela Merkel hatte die Wahl um ein Haar verloren, und ihre Reaktion war eindeutig. Die Regierungen unter ihrer Führung beschnitten den Reformeifer und setzten auf das Ziel einer sozialen Befriedung. Von angekündigten Reformen des Gesundheits- und Steuersystems blieb wenig übrig. Der Druck von außen bremste jeden Elan im Inneren.

Ähnlich waren die Reaktionen auf das Erstarken der AfD mit der Flüchtlingsbewegung im Sommer und Herbst 2015. Während die Partei der Rechten aggressiver und erfolgreicher wurde, beschloss die große Koalition, das Ausländer- und das Strafrecht in bislang unbekanntem Ausmaß zu verschärfen. Obwohl die Attacken der CSU und die verbale Zurückhaltung der CDU den Eindruck zulassen, es habe sich seit dem Sommer 2015 fast nichts geändert, sind die Gesetze heute rigider als alle bisherigen Regeln.

Linkspartei und AfD haben das Land verändert, obwohl sie nie im Bund mitregierten. Diese Veränderungen gingen nur zu einem kleinen Teil auf Überzeugungen der Regierenden zurück. In den meisten Fällen waren sie eine Reaktion auf garstige, laute, wirkungsvolle Positionen der Linken oder der Rechten. Das ist nicht automatisch schlecht. Aber wenn ein solches Vorgehen eher Regel als Ausnahme ist, wird es für die regierenden Parteien gefährlich.

Das Verhalten verschärft den Eindruck, dass bei allem Pragmatismus kein Platz und keine Kraft mehr bleibt für eigene Ziele und Überzeugungen. In den vergangenen Jahren unter Merkel hat es derartige Reformen so gut wie überhaupt nicht mehr gegeben. So provoziert man zwar nicht, vor allem nicht den Koalitionspartner. Und der Glaube herrscht offenbar vor, man könne so die eigene Macht stabilisieren. Aber es fehlt an Leidenschaft, Richtung, Identität. Unter nichts leiden Union und SPD mehr.

Beispiel Digitalisierung: Es ist erschreckend, wie weit Deutschland in der Verwaltung oder den Schulen selbst gegenüber Ländern wie Finnland oder Island zurückhängt. Oder der Zustand der öffentlichen Infrastruktur. Oder der zögerliche Umgang mit dem Klimaschutz, wo sich die Frage stellt, wie lange die Regierung das, was unweigerlich kommen wird, noch verdrängen möchte.

Es sind zentrale Fragen der Zukunft, auf die vor allem die beiden Noch-Volksparteien kaum noch kreative, zukunftszugewandte Antworten liefern. Zu oft sind Änderungsvorschläge weder Fisch noch Fleisch, sondern dienen nur der Friedensstiftung. So bluten Parteien aus.

Die Sehnsucht nach der Mitte hat die Volksparteien eingeschläfert

Das schlägt sich längst auch in Koalitionsverhandlungen und -ausschüssen nieder. Kaum etwas fasziniert, fordert heraus, weckt auf. Dafür steckt vieles drin, um nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners möglichst alles und alle zu befrieden. Das inspiriert und animiert keinen mehr.

Die Sehnsucht nach der Mitte - sie hat vor allem die Volksparteien eingeschläfert. Sie hat sie zu Mechanikern der Macht gemacht und dabei - vielleicht ausgehend von der Weltfinanzkrise 2008 - den Eindruck vermittelt, es gäbe sowieso nur eine vernünftige Lösung, nur einen einzigen gangbaren Weg. Es schälte sich eine Art Mainstream heraus, der während der Weltfinanzkrise möglicherweise wichtig war, um in einer hochgefährlichen Situation stabilisierend zu wirken.

Aber in den allermeisten anderen Fragen und Problemen seither speiste er das stärker werdende Gefühl, andere Meinungen würden quasi naturgesetzlich ausgeschlossen. Wahrscheinlich haben das weder die Kanzlerin noch die CDU oder die SPD absichtlich so initiiert. Als großes Problem wird es trotzdem wahrgenommen. Es liefert den Nährboden für jene Politik- und Elitenfeindlichkeit, die viele politische Debatten vergiftet.

Wer diese Situation als Vorsitzender von CDU, CSU und SPD ernst nimmt und nicht aus Bequemlichkeit beiseitewischt, muss neu denken. Er oder sie muss die Kraft für ergebnisoffenere Debatten entwickeln. Sie oder er muss den Mut haben, auch in einer auf Ausgleich bedachten Volkspartei das Hinterfragen üblicher Reflexe zuzulassen und forschen Projekten Raum zu geben. Für die SPD heißt das zum Beispiel, dass sie eine Debatte über Migrationspolitik zulassen muss, in der Flüchtlingshelfer, Bürgermeister und Polizisten einen Kurs festlegen können, der Sicherheit, Ordnung und Humanität verbindet. Nichts lähmt die SPD mehr als der nie geklärte Streit in dieser zentralen Frage.

Nicht nur das Innenleben der Parteien müsste dringend belebt werden

Gelingen kann das nur, wenn alles auf den Tisch darf: die Ängste der einen vor Veränderung und die Sehnsucht der anderen, Humanität und Solidarität mit Flüchtenden nicht aufzugeben. Wenn beide Seiten sich erklären können, aber dem anderen die Legitimität nicht absprechen dürfen. Wenn beide Seiten auch unkonventionelle Ideen entwickeln dürfen, um zum anderen Brücken zu schlagen. Bei der CDU ist die Lage kaum besser. Auch ihr fehlt im Migrationsstreit eine solche Brücke. Genauso wie es den Christdemokraten an dem Bemühen mangelt, eine Politik zu formulieren, mit der die für Deutschland fast existenziell wichtige Automobilindustrie mit der historischen Herausforderung durch die Klimazerstörung versöhnt werden könnte.

Dazu kommt: Nicht nur das Innenleben der Parteien müsste dringend belebt werden. Auch das Selbstverständnis von Koalitionen und ihrer Suche nach tragfähigen Kompromissen müsste sich ändern. Wer möchte, dass Parteien, auch Volksparteien wieder mit Projekten aufwarten, muss es zulassen, dass solche Impulse in Koalitionsverhandlungen nicht zerredet, zerhäckselt und bis zur Unkenntlichkeit zerkleinert werden. Sie müssen eine Chance aufs Ausprobieren bekommen.

Nicht jede Strategie der Wirtschafts-, der Steuer- oder der Umweltpolitik muss durch Kompromisse für alle tragbar sein. Stattdessen sollte es - wie in manchen Koalitionen in den Bundesländern allmählich Wirklichkeit - die Chance geben, dass jede Partei ein paar Herzensprojekte in Reinform umsetzen darf. Das würde von jedem Koalitionär mehr verlangen als heute. Heißt es doch, ein Projekt der anderen mitzutragen, obwohl es den eigenen Leuten schwerste Kopfschmerzen bereitet.

Gleichzeitig aber könnten Parteien Themen wieder umfassend prägen. Mit allen Risiken und allen Chancen. Nur so kehrt die Leidenschaft zurück, weil es die Möglichkeit eröffnet, mit Projekten etwas zu bewirken. Jede Partei müsste abwägen, was ihr am wichtigsten ist. Müsste für sich prüfen, ob die Chance den Preis wert ist. Nicht mehr im milchigen Nebel eines kleinsten gemeinsamen Nenners, sondern mit der Aussicht darauf, tatsächlich etwas versuchen zu dürfen.

Jede Partei müsste Ideen und Impulse entwickeln. Und jede Partei müsste lernen, die Ideen der anderen auszuhalten. Die Mitte - das wäre nicht mehr ein abstraktes Ziel, sondern würde sich im Ausgleich der Projekte ergeben. Ein Koalitionsvertrag wäre eine Vereinbarung, in der die Bündnispartner Raum für das erhalten, was ihnen am wichtigsten ist. Dann könnte Politik Parteien wieder anregen, aufregen, inspirieren. Sie wären gezwungen, sich mutig mit den Zukunftsfragen auseinanderzusetzen. Pragmatismus ist wichtig, vor allem in großen Krisen. Aber er alleine macht das politische System nicht mehr lebendig.

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