Schulen und Demokratie, das ist natürlich ein Riesenthema, gerade in diesem Jahr, in dem das Grundgesetz seinen 75. Geburtstag feiert, in dem im Sommer drei Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern anstehen, in denen in Umfragen die AfD führt. Da tun sich schon ein paar Fragen auf: Wie kann die Schule Kinder und Jugendliche zu Demokratinnen und Demokraten erziehen? Wie geht man im Unterricht mit einer gewählten Partei um, die demokratische Prinzipien unterwandert? Wo fängt Meinungsfreiheit im Klassenzimmer an, wo hört sich auf?
"Demokratie muss man nicht nur wollen, man muss sie auch können", macht Marina Weisband zu Beginn ihres Buches klar, "diese Staatsform ist die anstrengendste, die man sich überhaupt vorstellen kann". Was dann folgt, ist eine Abhandlung über die Erfahrungen, die sie mit einer Demokratiesoftware an Schulen gemacht hat, garniert mit Ausflügen in die Psychologie und Philosophie, zum Beispiel Hannah Arendts Theorie des politischen Handelns.
Die Software Aula hat sie mitentwickelt
Marina Weisband ist bekannt geworden als Expertin für Digitalisierung, die ausgebildete Psychologin war politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, inzwischen ist sie Mitglied bei den Grünen. Schon bei den eher krawalligen Piraten fiel sie als gute Rhetorikerin auf. Nach dem russischen Angriff war Weisband, die in der Ukraine geboren ist, Stammgast in Talkshows, wo sie ruhig und klug über die Lage in ihrem Herkunftsland aufklärte.
Seit 2014, so kann man das in ihrem Autorinnenprofil beim Fischer-Verlag nachlesen, leitet Weisband hauptberuflich das Schülerbeteiligungsprojekt Aula. Das Akronym steht für "ausdiskutieren und live abstimmen". Zeitweilig wirken die knapp 200 Seiten ihres Büchleins wie eine Art Gebrauchsanweisung für die Software, die sie selbst mitentwickelt hat.
Weisband bescheinigt dem System Schule ein grundsätzliches Demokratieproblem: die starren Stundenpläne, die vorgegebenen Inhalte, der Notendruck, die klaren Hierarchien. All das begünstige bei den Schülerinnen und Schülern eine "erlernte Hilflosigkeit". Je weniger sie mitbestimmen dürfen, desto weniger entwickelten sie die Fähigkeit und die Motivation, etwas zu verändern. Und seien entsprechend anfälliger für Extremismus und Populismus.
Die Anarchie auf Schultoiletten hat System
Ein Beleg dafür ist Weisband zufolge etwa die Anarchie auf Schultoiletten. Die seien oft der einzige Ort im Gebäude, an dem die Schülerinnen und Schüler sich unbeobachtet fühlten. Weil sie zwar durchaus den Wunsch hätten, etwas zu verändern, aber keine konstruktiven Mittel an die Hand bekämen, bleibe ihnen nichts anderes übrig, als sich auf ihre Art zu äußern: durch Randale und Zerstörung.
Man kann diese Analyse für zugespitzt halten. Dass Demokratie auch durch Mitbestimmung gelernt werden muss, bleibt trotzdem richtig. Weisband schlägt dafür also das von ihr entwickelte Werkzeug vor, eine Onlineplattform, über die die gesamte Schülerschaft Entscheidungen treffen kann - zum Beispiel darüber, ob die Schule einen Gebetsraum braucht, ob die Kantine einen Pizzatag anbieten soll oder auf dem Schulhof Bäume gepflanzt werden sollen.
Auch das kommt vor: Schüler votieren für Kaugummiverbot
Auch ohne die Software gleich anzuschaffen, lassen sich aus den Erfahrungen damit ein paar Schlüsse ziehen: Man sollte Schülerinnen und Schülern Entscheidungen zutrauen, man sollte ihre Ideen ernst nehmen, sie miteinander diskutieren, Kompromisse finden und abstimmen lassen. Dann überraschten Jugendliche, diese Erfahrung hat Weisband gemacht, auch mal mit Beschlüssen, die man gar nicht erwartet hätte.
An einer Schule zum Beispiel stimmte die Schülerschaft nach einer ausgiebigen Diskussion nicht für einen Kaugummiautomaten, sondern bekräftigte das bisher geltende Kaugummiverbot. Damit die Tische und Stühle sauber bleiben. An einer anderen Schule entschieden sich die Schülerinnen und Schüler nach langem Ringen gegen einen Klassenhamster, wegen der Tierhaarallergie eines Mitschülers - und lernten obendrein noch, was Minderheitenschutz heißt. Wenn es nur immer so einfach wäre.
Wirklich neue Perspektiven liefert Weisbands Buch nicht, es ist eher ein sehr anschauliches Plädoyer dafür, Schülerinnen und Schüler mitbestimmen zu lassen. Für eine Digitalisierungsexpertin beendet die Autorin ihren Text übrigens überraschend analog, sie wirbt fürs Ehrenamt, für Ortsverbände und dafür, Abgeordneten Briefe zu schreiben. Demokratische Basics eben. Aber es kann in diesen Zeiten nicht schaden, sie zu wiederholen.